Sherlock Holmes - Sein letzter Fall und andere Geschichten
Reisesack. »Hast du schon ins Morgenblatt geblickt?«, fuhr er dann fort.
»Nein.«
»Dann hast du also nichts von der Baker Street gelesen?«
»Baker Street?«
»Man hat heute nacht Feuer an meine Wohnung gelegt; es hat übrigens nicht viel Schaden angerichtet.«
»Um des Himmels willen, Holmes, das ist ja nicht mehr auszuhalten!«
»Nachdem ich den Kerl mit dem Knüttel habe festnehmen lassen, müssen Sie meine Spur völlig verloren haben. Sonst hätten sie sich unmöglich einbilden können, daß ich wieder in meine Wohnung zurückgegangen sei. Dagegen haben sie offenbar nicht versäumt, dich zu überwachen, sonst wäre Moriarty nicht auf Victoria Station gekommen. Könnte dir nicht auf deinem Wege dahin irgend ein Versehen begegnet sein?«
»Ich habe mich strengstens an deine Weisungen gehalten.«
»Hast du an den Arkaden den Wagen gefunden?«
»Jawohl, er stand schon da, wie ich kam.«
»Hast du den Kutscher erkannt?«
»Nein.«
»Es war mein Bruder Mycroft. Es ist viel wert, wenn man in einem solchen Falle nicht nötig hat, einen Mietling ins Vertrauen zu ziehen. Aber wir müssen nun ausmachen, was wir wegen Moriarty tun wollen.«
»Wir haben ja einen Expreßzug mit Anschluß an das Dampfboot, damit werden wir ihn doch wohl endgültig losgeworden sein!«
»Mein lieber Watson, du hast offenbar die Tragweite meiner Bemerkung nicht erfaßt, daß man diesen Mann in geistiger Beziehung füglich auf eine Linie mit mir stellen dürfe. Du bildest dir doch nicht ein, daß ich mich bei der Verfolgung meines Gegners durch ein so geringfügiges Hindernis lahm legen lassen würde. Warum solltest du nun so gering von ihm denken?«
»Was wird er aber tun?«
»Was ich auch tun würde.«
»Und was wäre das?«
»Einen Sonderzug nehmen.«
»Der käme aber doch zu spät.«
»Keineswegs. Unser Zug hält in Canterbury, und am Dampfboot gibt es einen Aufenthalt von mindestens einer halben Stunde. Dort holt er uns ein.«
»Man sollte gerade glauben, wir wären die Verbrecher! – Wollen wir ihn nicht bei unserer Ankunft verhaften lassen?«
»Damit wäre die Arbeit von drei Monaten zu nichte gemacht. Den großen Fisch hätten wir dann allerdings gefangen, aber die kleinen würden uns rechts und links aus dem Netze schlüpfen, während wir sie am Montag alle miteinander bekommen. Nein, von Verhaftung kann keine Rede sein.«
»Was aber dann tun?«
»Wir steigen in Canterbury aus.«
»Und dann?«
»Nun, dann müssen wir eben eine Querfahrt über Land nach Newhaven machen und von dort nach Dieppe 5 übersetzen. Moriarty wird dann wiederum genau so handeln, wie ich an seiner Stelle gehandelt haben würde. Er wird nach Paris weiterfahren, dort unser Gepäck abfangen und zwei Tage an der Abgabestelle auf uns warten. Mittlerweile leisten wir uns jeder einen neuen Reisesack, lassen die Geschäfte in den Gegenden, durch die wir kommen, auch etwas verdienen und fahren in aller Gemütlichkeit über Luxemburg und Basel nach der Schweiz.«
Ich bin des Reisens zu sehr gewohnt, als daß ich mir aus dem Verlust meines Gepäckes sonderlich viel machen sollte, dagegen verdroß mich, offen gestanden, der Gedanke nicht wenig, mich durch allerlei Kreuz- und Querfahrten vor einem Menschen verstecken zu müssen, der eine Unzahl der schwärzesten Schurkereien auf dem Kerbholz hatte.
Allein offenbar beurteilte Holmes die Lage richtiger als ich. Wir stiegen daher in Canterbury aus – lediglich um zu entdecken, daß der nächste Zug nach Newhaven erst in einer Stunde abgehe.
Noch schaute ich recht betrübt meinem rasch entschwindenden Gepäcke nach, als mich Holmes anstieß und auf die Bahnlinie deutete.
»Da ist er schon, siehst du«, sagte er.
Ganz in weiter Ferne am Waldrand stieg ein Rauchstreifen empor. Nach einer Minute konnte man eine Maschine und einen Wagen unterscheiden, die mit Windeseile auf der offenen Kurve gegen den Bahnhof herjagten. Wir hatten kaum Zeit, uns hinter einen Haufen von Gepäckstücken zu stellen, als der Zug mit Donnergetöse an uns vorübersauste und uns eine ganze Wolke heißer Luft ins Gesicht blies.
»Da fährt er nun davon«, sagte Holmes, während wir dem Wagen nachblickten, wie er auf den Schienen hin und her schwankte. »Auch unseres Feindes Scharfsinn hat seine Grenzen, wie du siehst. Das wäre erst ein wahres Meisterstück von ihm gewesen, wenn er meine Gedanken völlig erraten und genau danach gehandelt hätte.«
»Und hätte er uns eingeholt, was würde er getan haben?«
»Einen
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