Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
Schwester über alles. Als ich die Tür hinter ihnen schloß, war eine Riesenlast von meiner Seele genommen. Aber ach, in weniger als einer
Stunde klingelte es wieder an unserer Haustür, und man sagte mir, Mr. Drebber sei
zurückgekommen. Er war offensichtlich betrunken und sehr erregt. Er drängte sich in das Zimmer, in dem meine Tochter und ich saßen, und behauptete, nicht recht glaubwürdig, daß er seinen Zug verpaßt habe. Er wandte sich dann an Alice und machte ihr in meiner
Gegenwart den Vorschlag, mit ihm zu fliehen. >Du bist erwachsen< sagte er, >es gibt kein Gesetz, das dich aufhalten könnte. Ich habe Geld genug, mehr als genug. Mach dir nichts aus deiner Alten und komm auf der Stelle mit mir. Du sollst auch wie eine kleine Prinzessin leben. <
Die arme Alice hatte solche Angst, daß sie vor ihm zurückwich. Aber er packte sie beim Handgelenk und versuchte, sie zur Tür zu ziehen. Ich schrie auf und das holte meinen Sohn Arthur zu uns ins Zimmer. Was dann passierte, weiß ich nicht. Ich hörte Flüche und
undeutliche Geräusche wie von einem Handgemenge. Aber ich hatte zuviel Angst, um auch
nur den Kopf zu heben. Als ich schließlich aufsah, stand Arthur im Türrahmen und lachte.
Einen dicken Stock hielt er in der Hand. >Ich glaube nicht, daß dieser feine Herr uns noch einmal belästigen wird<, sagte er. >Ich werde mal hingehen und sehen, was aus ihm geworden ist.<
>Mit diesen Worten nahm er seinen Hut und ging die Straße hinunter. Am nächsten Morgen hörten wir von dem rätselhaften Tod des Mr. Drebber.<
Diese Aussage kam schweratmend und stockend von Mrs. Carpentiers Lippen. Manchmal
sprach sie so leise, daß ich ihre Worte kaum verstand. Ich machte mir jedoch von dem ganzen Gespräch stenographische Notizen.«
»Das ist wirklich alles sehr aufregend«, sagte Holmes mit einem Gähnen. »Und was passierte danach?«
»Als Mrs. Charpentier eine ihrer längeren Pausen machte, war mir klargeworden, daß der ganze Fall sich um einen einzigen Punkt drehte«, fuhr der Detektiv fort. »Ich sah ihr scharf ins Auge — ich habe gefunden, daß das bei Frauen immer gut wirkt-und dann fragte ich sie, wann ihr Sohn heimgekehrt ist.
>Ich weiß es nicht<, antwortete sie.
>Sie wissen es nicht?<
>Nein, er hat seinen eigenen Hausschlüssel, mit dem er ins Haus kommt.<
>Kam er, nachdem Sie schon ins Bett gegangen waren?<
>Ja.<
>Wann sind Sie ins Bett gegangen?<
>Um elf Uhr herum.<
>So war Ihr Sohn mindestens zwei Stunden unterwegs?<
>Ja.<
Möglicherweise auch vier oder fünf Stunden ?<
>Ja.<
>Und was hat er während dieser Zeit gemacht?<
>Ich weiß es nichts antwortete sie und wurde ganz weiß im Gesicht. Natürlich gab es nun keinen Zweifel mehr, was ich zu tun hatte. Ich fand heraus, wo Leutnant Charpentier sich befand, nahm zwei Polizisten mit und verhaftete ihn. Als ich ihm auf die Schulter tippte und ihn bat, uns unauffällig zu folgen, da sagte er frech und unverfroren: >Ich nehme an, Sie wollen mich verhaften, weil Sie meinen, ich hätte etwas mit dem Tod dieses Schurken
Drebber zu tun.<
Wir hatten ihm aber nichts gesagt. So erschien uns diese Bemerkung ziemlich verdächtig.«
»Sehr!« sagte Holmes.
»Er hatte noch immer den dicken Knüppel bei sich, den er mitnahm, als er Drebber folgte, wie seine Mutter uns erzählte. Es war ein solider, dicker Eichenknüppel.«
»Wie lautet Ihre Theorie?«
»Nun ja, meine Theorie ist folgende: Er folgte Drebber bis zur Brixton Road. Als sie dort angelangt waren, brach neuer Streit zwischen ihnen aus. Es kam zu einem Handgemenge, in dem Drebber Stockschläge erhielt, vielleicht in die Magengrube, das ihn tötete, ohne Spuren zu hinterlassen. Das Wetter war an diesem Abend sehr unfreundlich und naß. Niemand war auf der Straße. So konnte Charpentier sein Opfer bequem in das leere Haus schleppen. Was die Kerze anbelangt und das Blut und die Schrift an der Wand und den Ring — das können Tricks gewesen sein, um die Polizei auf die falsche Fährte zu locken.«
»Sehr gut gemacht!« sagte Sherlock Holmes anerkennend, »wirklich, Gregson, Sie kommen
voran. Sie werden es noch zu etwas bringen.«
»Ich bilde mir ein, daß ich saubere Arbeit geleistet habe«, antwortete der Detektiv stolz. »Der junge Mann bestand darauf, vernommen zu werden. Er gab zu Protokoll, daß er Drebber eine Weile gefolgt sei. Der habe es allerdings gemerkt und, um seinen Verfolger abzuschütteln, habe er sich eine Kutsche genommen. Auf seinem Heimweg hätte er dann einen
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