Sherlock Holmes - Studie in Scharlachrot
hat Mr. Drebber das Haus verlassen, um zum Bahnhof zu fahren?< fragte ich.
>Um acht Uhr<, sagte sie und schluckte, um mit der Erregung fertig zu werden. >Sein Sekretär, Mr. Stangerson, sagte, es gäbe zwei Züge, einen um 9.15 Uhr und einen um 11. Sie wollten den ersteren nehmen.<
>Und das war das letzte, was Sie von ihm gesehen haben?<
Das Gesicht der Frau hatte sich auf schreckliche Weise verändert, als ich das fragte. Sie wurde leichenblaß, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie das einfache Wort >ja< herausgebracht hatte. Und das klang rauh und gepreßt.
Einen Augenblick lang schwiegen wir alle. Doch dann sprach die Tochter mit ruhiger, klarer Stimme. >Aus einer Lüge kann nichts Gutes kommen, Mutter. Wir wollen dem Herrn
gegenüber ehrlich sein. Wir haben Mr. Drebber noch einmal gesehen.<
>Der Himmel möge dir vergeben< rief Madame Charpentier weinend, rang die Hände und sank in den Sessel. >Du hast deinen Bruder umgebracht<
>Arthur wäre es bestimmt lieber, wenn wir die Wahrheit sagen<, antwortete das Mädchen fest.
>Es ist wohl jetzt besser, wenn Sie mir alles der Reihe nach erzählen<, sagte ich, >halbe Geständnisse sind schlimmer als gar keine. Außerdem wissen Sie nicht, wieviel uns bereits bekannt ist.<
>Du trägst die Verantwortung für alles, Alice !< rief die Mutter und wandte sich mir zu. >Ich werde Ihnen jetzt alles erzählen, Sir. Ich habe Angst um meinen Sohn. Aber diese Angst kommt nicht daher, daß ich meine, daß er in diese böse Sache verwickelt sein könnte. Er ist völlig unschuldig. Meine große Sorge ist nur, daß er in Ihren Augen als verdächtig erscheinen könnte, obwohl das eigentlich unmöglich ist. Sein nobler Charakter, sein Beruf und sein untadeliges Vorleben würden das nicht zulassen!<
>Es ist das beste, wenn Sie mir frei und ohne Umschweife berichten, was sich zugetragen hat<, sagte ich. >Wenn Ihr Sohn unschuldig ist, wird ihm nichts geschehen, verlassen Sie sich darauf.<
>Alice, vielleicht läßt du mich besser jetzt mit dem Herrn alleine<, sagte sie, und die Tochter zog sich zurück. >Nun, Sir<, fuhr sie fort, >ich hatte nicht vor, Ihnen dies alles zu erzählen.
Aber da meine Tochter schon einmal damit angefangen hat, bleibt mir keine andere Wahl. Da ich mich nun einmal zum Reden entschlossen habe, werde ich keine Einzelheit auslassen.<
>Da tun Sie sehr weise dran<, sagte ich.
>Mr. Drebber hat nahezu drei Wochen bei uns gewohnt. Er und sein Sekretär, Mr.
Stangerson, waren auf einer Europareise. Ich sah noch Aufkleber aus Kopenhagen auf jedem ihrer Koffer, woraus ich entnahm, daß sie dort wohl zuletzt gewesen sind. Stangerson war ein stiller, zurückhaltender Mann, aber sein Brotherr, das muß ich zu meinem Leidwesen sagen, war genau das Gegenteil. Er hatte schlechte Gewohnheiten und benahm sich grob und brutal.
Schon am Abend nach seiner Ankunft betrank er sich schrecklich und tatsächlich war er nach 12 Uhr mittags kaum noch nüchtern. Den Dienstmädchen gegenüber nahm er sich viele
Freiheiten heraus. Aber am schlimmsten für uns war, daß er das gleiche Benehmen bald auch meiner Tochter Alice gegenüber an den Tag legte. Mehr als einmal hat er sie auf eine recht eindeutige Weise angesprochen. Aber das arme Mädchen ist so unschuldig, daß sie das zu ihrem Glück nicht verstand. Einmal packte er sie mit Gewalt und nahm sie in die Arme, was sogar seinen Sekretär so empörte, daß er sich veranlaßt sah, ihm Vorhaltungen zu machen.<
>Aber wie konnten Sie das alles nur zulassen?< fragte ich. >Ich nehme an, daß Sie Ihre Gäste auch loswerden können, wenn Sie ihnen nicht zusagen.< Bei dieser unverblümten Frage errötete Mrs. Charpentier. >Ich wünschte von Herzen, daß ich ihm noch
am Abend nach seiner Ankunft den Laufpaß gegeben hätte<, sagte sie. >Aber es war eine große Versuchung. Sie zahlten jeder ein Pfund pro Tag — das waren vierzehn Pfund pro
Woche, und das in diesen flauen Zeiten. Ich bin Witwe und mein Sohn ist in der Marine und hat eine Menge gekostet. Ich konnte es nicht über mich bringen, auf das Geld zu verzichten.
Ich habe gehandelt, wie es mir richtig erschien. Dieses letzte Stück jedoch war zuviel, und ich habe ihn gebeten, mein Haus aus diesem Grunde zu verlassen. Deshalb ist er ausgezogene
>Und dann?<
>Als ich sah, wie er davonfuhr, fiel mir ein Stein vom Herzen. Mein Sohn ist gerade auf Urlaub hier, aber ich erzählte ihm nichts von diesen unangenehmen Dingen, denn er hat ein aufbrausendes Temperament und liebt seine
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