Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
Vom Netzwerk:
befürchtet, gab er nur wenig preis. Zu viele Füße waren in letzter Zeit darauf herumgetrampelt, hatten den Staub aufgewirbelt und die Spinnweben zerfetzt, was all meine Bemühungen vereitelte.
    Wie die Dinge standen, waren Ort und Umstände der Tat in mehr als eine Richtung interpretierbar. Während niemand auf dem Empfang einige Stockwerke über mir Joseph Buquet eines Selbstmords für fähig hielt, gab es dennoch keinen direkten Beweis, der diese Möglichkeit ausgeschlossen hätte. Wäre es nicht sogar denkbar, daß der ›Geist‹ (in Ermangelung eines anderen Namens mußte diese Bezeichnung herhalten), weit entfernt davon, Buquets Mörder zu sein, tatsächlich versucht hatte, ihn zu retten? Daß er den unglückseligen Maschinenmeister entdeckt und das Seil durchgeschnitten hatte, während die anderen davongelaufen waren, um Alarm zu schlagen und Hilfe zu holen? Auch das wäre eine Erklärung dafür gewesen, daß die Leiche sich bei ihrer Rückkehr auf dem Fußboden befunden hatte.
    Warum aber hatte er dann das Seil vom Hals des Toten mitgenommen?
    Ich hatte gerade beschlossen, meine Versuche einzustellen und mich zu erheben, als mich ein gewaltiger Schlag auf den Hinterkopf beinahe ohnmächtig werden ließ. Auch die Lampe entfiel meinen Fingern, und mit einem Mal herrschte überall Finsternis.
    Noch bevor ich wieder zu mir kam, wurde ich von einem Paar starker Arme von hinten ergriffen und wieder zu Boden gezogen, ein Vorgang, der mir die Luftröhre abschnitt. In dem Versuch, meinen im Dunkeln verborgenen Angreifer abzuschütteln, rollte ich mich auf die Seite, aber er ließ sich nicht beirren und lockerte keinen Augenblick lang seinen eisernen Griff. Sein Umhang hüllte uns beide ein, während wir uns über den Betonboden wälzten, und ich hörte nahe bei meinem rechten Ohr, wie er verzweifelt nach Atem rang. Meine Augen rollten in ihren Höhlen nach oben, denn auch ich bekam keine Luft mehr und versank langsam in Bewußtlosigkeit.
    Als mir klar wurde, daß die Situation eine verzweifelte Maßnahme erforderlich machte, entsann ich mich meiner Kenntnisse des baritsu * und warf ihn über die Schulter, so daß er mit einem Krachen und einem lauten, überraschten Ausruf auf dem Boden landete. Wenn dies der Geist war, dann hatte er jedenfalls Knochen.
    Als ich im Dunkeln um mich tastete, fand ich auch die Laterne wieder und zündete sie an, bevor ich mich aufrappelte und zu meinen Angreifer hinübertaumelte.
    »Darf ich fragen, mit wem ich die Ehre haben?« sagte ich keuchend.
    Er streckte sich mit einigen Schwierigkeiten und Stöhnen, schielte zu mir hinauf und fuhr sich mit der Zunge über eine gespaltene Lippe.
    »Sind Sie das Phantom?« wollte er wissen.
    »Sind Sie es?«
    »Ich, Monsieur, bin Vicomte Raoul de Chagny.«
    Ich streckte dem zweiten Sohn einer der ältesten Familien Frankreichs die Hand entgegen. Widerwillig griff er danach, und ich zog ihn auf die Füße. Im Licht der Treppe über uns sah ich, daß er kaum mehr als ein Junge war, bestenfalls achtzehn Jahre alt, und sein Gesicht war schmutzig und verängstigt.
    »Was tun Sie hier?«
    »Dieselbe Frage könnte ich Ihnen stellen«, konterte er, während er immer noch um Luft rang.
    »Ich glaube, die Umstände geben mir das Recht, die Fragen zu stellen«, beharrte ich freundlich. »Warum haben Sie mich angegriffen?«
    »Sie sind nicht einer von ihren Liebhabern?«
    »Von wem sprechen Sie?«
    »Von Christine! Bin ich Ihnen nicht in ihren Ankleideraum gefolgt?«
    Ich starrte ihn einen Augenblick lang verwirrt an und widerstand dem Impuls zu lachen. Mir wurde klar, daß der junge Mann noch weniger als ich wußte, woran er eigentlich war. Alle vielleicht noch vorhandenen Gedanken, ihn wegen seines Verhaltens zu tadeln, wurden zunichte im Angesicht der traurigen, zerzausten Figur, die er abgab. Bei Lichte betrachtet, hatten wir uns beide durch ein merkwürdiges Zusammentreffen seltsamer Umstände lächerlich gemacht.
    »Wohin sind Sie nach Ihrem Streit mit Buquet gegangen?« fragte ich.
    »Dieser Schuft«, begann der andere.
    »Vicomte«, drängte ich, »bitte beantworten Sie mir meine Frage. Wo waren Sie während der heutigen Abendvorstellung?«
    Er seufzte, und ich sah, wie er sich beschämt und auch ein wenig reuig seine Kleider abklopfte.
    »Mein Bruder hat keine Billigung für das, was er als meine Vernarrtheit bezeichnet. Er hat mich nach meinem – Ausbruch hier abgeholt und darauf bestanden, daß ich mit ihm im Maxime zu Abend aß. Ich bin gerade

Weitere Kostenlose Bücher