Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
Giry, die Mutter der kleinen Meg, die sich um die Logen auf dem großen Rang kümmert, ebenfalls von der Existenz des Geistes überzeugt ist.«
»Hat sie ihn denn jemals zu Gesicht bekommen?«
»Nein, aber sie hat seine Stimme gehört.«
»Schon wieder Stimmen. Ich glaube, wir entfernen uns langsam vom meinem Tätigkeitsbereich«, warf ich ein. »Ich bin kein Exorzist.«
»Ich wünsche, daß Sie Christine beschützen«, sagte Irene Adler ohne Umschweife. »Wenn die Calvé sich erholt, was nicht mehr lange dauern wird, wird sie meine Rolle wieder übernehmen, und ich werde die Stadt verlassen, um andere Engagements wahrzunehmen. Wie die Dinge liegen, werde ich schon in vier Tagen in Amsterdam erwartet. Ich wünsche, daß Sie Christine beschützen«, wiederholte sie mit einiger Bestimmtheit, als wollte sie sich selbst in dieser Hinsicht Klarheit verschaffen. »Der Vicomte mag sie zwar lieben, aber er ist noch ein grüner Junge, noch ein Novize in den Finessen dieser Welt. Ebenso wie seine Angebetete.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Sie hörte auf umherzulaufen und betrachtete mit unergründlicher Miene und schief gelegtem Kopf ihre Fotografie auf dem Kaminsims.
»Sollten Sie sich weigern …« Sie zögerte, und als sie weitersprach, klang es beinahe wie ein Selbstgespräch: »… ich nehme an, ich wäre dann gezwungen, noch einmal über mein Schweigen bezüglich Ihres Incognitos nachzudenken.«
»Ich vergaß, daß Erpressung Ihre Spezialität ist.« *
»Immer nur für einen guten Zweck«, stellte sie, nicht im geringsten ungehalten, fest. »Ihr Lohn wird mein Schweigen sein.« Ich setzte mich auf und versuchte, durch die Benommenheit meines Kopfschmerzes hindurch einen klaren Gedanken zu fassen, während sie so tat, als betrachtete sie ihre Fingerspitzen.
»Wie soll ich mich mit einem Teil der Bühnengemeinde vertraut machen, mit dem ich für gewöhnlich keinen Kontakt habe?« wollte ich wissen. »Ich kann kaum in irgendeiner Verkleidung herumlaufen und gleichzeitig meinen Platz im Orchester behalten.«
»Darüber habe ich bereits nachgedacht. Heute abend gibt es zu Ehren der Herren Poligny und Debienne eine Abschiedsfeier hinter der Bühne. Sie wissen sicherlich, daß die beiden ihr Amt als Operndirektoren niederlegen. Die Feier hat gewiß gerade erst angefangen. Sie sind noch immer im Abendanzug und werden mich begleiten. Ich werde Sie als einen Freund aus meinen Tagen an der Königlichen Oper von Oslo vorstellen. Auf diese Weise können Sie Christine und viele der Hauptpersonen in dieser Affäre kennenlernen.«
»Wird man den Empfang in Anbetracht dessen, was geschehen ist, nicht absagen?«
»Aber Monsieur Sigerson, Sie kennen sicher die Maxime, die uns versichert, daß die Show weitergehen muß?«
»Ich bin korrekt gekleidet, was man von Ihnen nicht gerade sagen kann«, bemerkte ich, während ich mich widerwillig erhob und nach meinem Umhang griff.
»Ich bin wie immer eine Ausnahme.« Sie lächelte und nahm ihren eigenen Mantel von dem Stuhl, auf den sie ihn geworfen hatte. »Im Land von George Sand und Sara Bernard wird man meine etwas unkonventionelle Art schon tolerieren, wenn nicht sogar verstehen, vor allem, da ich Künstlerin bin. Können wir jetzt gehen?«
Ich hatte keine Wahl.
KAPITEL VIER
Das erste Blut fließt
Der Empfang, der in einem dieser gewaltigen Künstlerzimmer stattfand, war eine ziemlich gedämpfte Angelegenheit. Dennoch handelte es sich um eine jener Situationen, die für den Augenblick eine falsche Jovialität schaffen, eine fadenscheinige Demokratie, die die Klassenunterschiede der auf der Bühne bestehenden Trennung aufheben, eine Situation, in der die Direktoren so tun, als mischten sie sich unter Gleichgesinnte, wenn sie mit den Damen sprechen, die die Leute zu ihren Plätzen führen; Garderobenmeisterinnen kommen in engen Kontakt mit Musikern, und Tenöre flirten mit dem corps de ballet , dessen einziges Interesse allerdings darin besteht, am Buffet genüßlich zu schlemmen.
La Sorelli saß in einer Ecke, um ihre Abschiedsrede für die scheidenden Direktoren zu proben, und half ihrer Erinnerung mit einem Glas Champagner und einer in der Nähe stehenden Flasche auf die Sprünge.
Leroux hielt in einem anderen Teil des Raums hof, umlagert von Mitgliedern des Ensembles, die an seinen Lippen hingen. Er sah aus wie ein Mann, der die Wahl hatte, entweder sich selbst oder andere zu langweilen und sich, ohne zu zögern, für letzteres entschieden hatte.
Christine Daaé
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