Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
war nicht anwesend. Der Tod von Buquet und die vorangegangene furchtbare Szene in ihrem Ankleideraum hatten die junge Sopranistin so verstört, daß ein Arzt ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und dafür gesorgt hatte, daß man sie nach Hause brachte.
Mein Erscheinen mit Irene Adler am Arm – die nach wie vor in Männerkleidung steckte – verursachte eine mittlere Sensation, und ich sah, wie meine Aktien aufgrund unserer Bekanntschaft stiegen. Diejenigen, die in mir nur ein weiteres Rädchen der großen Maschinerie der Oper gesehen hatten, waren nun emsig damit beschäftigt, meinen Status noch einmal zu überdenken. Glücklicherweise waren meine Kopfschmerzen im Schwinden begriffen, jetzt, da ich einen Auftrag hatte, der mich ablenkte.
»Sigerson, Sie sind wirklich ein verschlagener Teufel«, rief Ponelle aus und nahm mich beiseite. »Sie haben keinen von uns wissen lassen, daß Sie mit Mademoiselle Adler bekannt sind.«
»Schließlich bin ich Musiker von Beruf«, wich ich aus und überließ ihn seinen Mutmaßungen, als ich eine ungeduldige Geste meiner Gastgeberin bemerkte.
Sie stellte mich Debienne und Poligny vor, mit denen ich seit unserem ersten Gespräch kein Wort mehr gewechselt hatte. Die beiden Herren machten sich nicht die Mühe, meine Echtheit als alter Freund von Irene Adler aus ihren Tagen an der Oper in Oslo in Zweifel zu ziehen, da sie sich in einer erhitzten Diskussion mit der kleinen Jammes, Meg Giry und ihrer Mutter befanden, die zuvor alle von Monsieur Mifroid von der Pariser Präfektur befragt worden waren. Ein erregter Chor von Ausrufen und Entsetzen begleitete ihre Unterhaltung. Die kleine Jammes beharrte darauf, daß man nur den Geist für Buquets Tod verantwortlich machen könne, und Meg Giry pflichtete ihr voller Enthusiasmus bei.
»Ich habe ihn persönlich gesehen«, brüstete sie sich, überglücklich, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, die dieser Behauptung folgte.
»Was? Wann?«
»Ich war die letzte, die bei der Schlußvorstellung von Le Prophète die Leiter hinunterstieg, und er stand am Ende des Ganges im Licht der einzigen Lampe in der Nähe der Kellertür. Er war in Abendkleidung.«
»Er ist immer in Abendkleidung«, fügte eine andere Stimme hinzu.
»Was hat er getan?« wollte eine weitere wissen.
»Er verbeugte sich tief in meine Richtung und verschwand durch die Mauer! Noch nie im Leben hatte ich solche Angst.«
»Und sein Gesicht?« wollte eine dritte wissen.
»Grauenvoll! Ein Totenschädel!« Diese Information stieß auf ein allgemeines entsetztes Aufkeuchen. »Jawohl, ein Totenschädel«, wiederholte Meg, eindeutig befriedigt von der Reaktion, die ihre Worte hervorgerufen hatten.
»Joseph hat auch behauptet, ihn gesehen zu haben«, warf Jammes dazwischen, die eifrig darauf bedacht war, das Rampenlicht zurück auf sich zu ziehen. Augenblicklich scharte sich die Gruppe wieder um Megs Rivalin.
»Buquet? Bist du da sicher?«
»Er hat es mir selbst gesagt«, beteuerte der kleine Racker. »Er sagte, das Gesicht habe kein Gesicht – es gebe keine Nase und keinen Mund, nur dunkle, blitzende Augen.«
»Nun, damit ist die Sache klar«, schloß eine der vielen Stimmen. »Es muß der Geist gewesen sein, der ihn getötet hat.«
Die Feststellung, die das Gespräch zum Stillstand brachte, wurde von den Direktoren nicht bestritten.
»Wo genau wurde die Leiche des armen Mannes gefunden?« fragte ich, und versuchte, ein unverdächtiges Benehmen an den Tag zu legen. Vielleicht hätte sich niemand die Mühe gemacht, meine Frage zu beantworten, wäre da nicht meine neue Bedeutung als Vertrauter von Mademoiselle Adler gewesen.
»Zwischen einer Kulissenstütze und einer Statue aus Le Roi de Lahore «, sagte Poligny und schüttelte bei der Erinnerung daran den Kopf.
»War dieser Buquet die Art Mensch, die sich umbringt?«
Irgend jemand kicherte.
»Er hätte viel eher Sie umgebracht.«
Die Direktoren pflichteten dem bei.
»Buquet war nicht der Mann, der irgend etwas einfach hingenommen hätte.« Das Schweigen, das dieser Feststellung folgte, ließ nur eine Erklärung offen.
»Und habe ich recht verstanden, Sie glauben beide an den Geist?«
»Wir wissen, daß es ihn gibt.«
»Darf ich fragen, woher Sie das wissen?«
Sie sahen einander kurz an, unsicher, ob dies ein Thema war, das sie in aller Öffentlichkeit diskutieren wollten. An ihrer Stelle ergriff Madame Giry das Wort.
»Ich kümmere mich um seine Loge, Monsieur«, verkündete sie mit einer hochtrabenden
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