Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
erst zurückgekehrt und mußte feststellen, daß sie nicht mehr da ist.«
»Wissen Sie, warum sie nicht mehr da ist?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Monsieur le Vicomte«, sagte ich nach kurzem Nachdenken, »ich glaube, Sie könnten etwas zu trinken gebrauchen.«
KAPITEL FÜNF
Die Geschichte des Vicomte
Es heißt, daß es am Scheideweg dieser Welt, auch bekannt unter dem Namen Café de la Paix, nur eine Frage der Zeit sei, bis man auf einen Bekannten trifft. Genau das aber wollte ich unbedingt vermeiden. Nichtsdestoweniger mußte ich mich dem kleinen Vicomte fügen, was die Auswahl des Lokals betraf, in dem wir unseren Trunk nehmen wollten. Wie bei einem Duell, in dem der Herausforderer die Waffen wählen darf, so ging der junge Mann auch in unserem Falle davon aus, daß es sein Vorrecht sei, den Schauplatz unserer Versöhnungsfeier zu wählen. Da er mit allen Stammlokalen der haute monde vertraut und nur das Beste gewohnt war, hätte mich seine Wahl eigentlich nicht überraschen dürfen. Sie verursachte mir jedoch ein gewisses Unbehagen, und ich hielt meinen Kopf in mein Cognacglas gesenkt. Durch ein Eckfenster konnte ich draußen die Löffelbagger auf der Rue Scribe sehen, die dort müßig herumstanden wie geisterhafte Wächter in einer Ruhepause von ihren Arbeiten an der geplanten Pariser Untergrundbahn.
De Chagny gab sich mit einem Absinth zufrieden, den er in einem Schluck hinunterstürzte, bevor er einen neuen bestellte.
»Tot, sagen Sie?«
In so wenig Worten wie möglich berichtete ich ihm über die Ereignisse, die seinem Verlassen des Theaters früher am Abend gefolgt waren. Seine einzige Antwort bestand darin, noch eine weitere Runde zu bestellen.
»Stehe ich unter Verdacht?« wollte er plötzlich wissen, bevor er seinen nächsten Drink an seine aufgeschwollenen Lippen führte.
»Ihr Alibi scheint diese Möglichkeit auszuschließen«, informierte ich ihn, was ihn jedoch keineswegs zu beruhigen vermochte.
»Ich habe den Mann nicht getötet, um Himmels willen. Wissen Sie denn nicht, wer ich bin?« stellte er ungehalten fest.
Ich war müde. Ich antwortete, ohne nachzudenken.
»Neben Ihrer Ahnenreihe und der Tatsache, daß Sie kürzlich die École Navale * abgeschlossen haben und nun auf eine Überfahrt auf der Requin warten, die sich im nördlichen Polarkreis auf die Suche nach Überlebenden der D’Artois Expedition machen wird, weiß ich nur wenig. Sie haben einen älteren Bruder, mit dem Sie sich gut verstehen, aber –«
Er starrte mich mit offenem Mund an.
»Also sind Sie mir doch gefolgt!«
»Wie bitte? Nein, ganz gewiß nicht«, begann ich, während ich bereits nach einer plausiblen Erklärung suchte. »Das Ganze ist Teil einer neuen Wissenschaft der Deduktion«, erklärte ich, bevor er mich abermals unterbrechen konnte. »Ich habe mich mit dieser Wissenschaft ein wenig beschäftigt.«
» Was für eine Wissenschaft?«
»Ich schaue Sie an, und was sehe ich? Ich sehe einen jungen Mann, der sich so aufrecht hält, daß es auf eine militärische Ausbildung schließen läßt; die Tatsache, daß Sie der Marine angehören, entnehme ich aus dem Anker, den Sie sich ein wenig impulsiv auf Ihre linke Hand haben tätowieren lassen; die Tatsache, daß Sie ein Leutnant sind, entnehme ich aus dem Taschentuch, das Sie in Ihrem Ärmel statt in Ihrer Brusttasche tragen, ebenso wie dem Siegelring am Ringfinger Ihrer rechten Hand. Obwohl Sie in Zivil und nicht in Uniform sind, lassen Sie es sich nicht nehmen, Ihre Kappe auch im Haus zu tragen, ganz wie es den Sitten der Marine entspricht. Eindeutig sind Sie nicht im Dienst, und Sie sind auch nicht krank. Sie machen also einen etwas ausgedehnten Urlaub, aber warum? Warum, frage ich mich, hat dieser junge Leutnant so viel Zeit? Er wartet offensichtlich darauf, sich einzuschiffen, aber seine Befehle sind noch nicht durchgekommen. Was kann das sein, das so lange dauert? Ich habe in der Zeitung davon gelesen, daß es bei der Ausrüstung der Requin Verzögerungen gegeben hat, daß ihre geplante Antarktisfahrt aufgeschoben wurde. Aufgrund all dieser Umstände war ich so kühn zu schließen, welcher Art Ihr Dienst ist und welches Ihr Ziel.«
Er starrte mich immer noch an.
»Wissenschaft der Deduktion.« Plötzlich hellten sich seine Züge auf, und er schnipste mit den Fingern. »Oh, ich verstehe, wie Dupin!«
»Wie wer ?«
»Sie wissen schon, Auguste Dupin, der berühmte französische Detektiv.«
Ich war drauf und dran, meine Verärgerung über diese
Weitere Kostenlose Bücher