Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
denen, die sich bewußt oder unbewußt zwischen ihn und das Objekt seiner Leidenschaft zu stellen wagen.«
Ich füllte meine Pfeife von neuem und tat so, als ignorierte ich Ponelles erstaunten Blick. Seine Grübelei brachte nun etwas anderes zutage, und zwar etwas, was ihm schwer zu schaffen machte, denn er runzelte die Stirn.
»Aber was war mit Carlotta und dem Frosch in ihrem Hals?«
Ich zündete ein Streichholz an und zog energisch an der Pfeife, bevor ich ihm eine Antwort gab.
»Haben Sie schon einmal etwas von Ventriloquismus gehört?«
Er schüttelte den Kopf.
»Es ist ein alter, aber geheimer Trick, der bis auf römische Zeiten zurückgeht, obwohl er gegenwärtig nur noch von Zigeunern und Jahrmarktkünstlern ausgeführt wird, eine Art mündliches trompe l’oeil . Das Wort selbst bedeutet aus dem Bauch heraus sprechen. Es ist nicht allgemein bekannt, aber ein begabter Bauchredner kann seine Stimme ›werfen‹, das heißt, er kann die Wirkung erzielen, als käme seine Stimme von einem anderen Ort als dem, an dem er sich befindet. Ein Experte kann es sogar schaffen, daß seine Lippen sich dabei nicht bewegen, aber in diesem speziellen Fall braucht unser Mann einen solchen Kniff gar nicht. Darüber hinaus hat er die ganze Opéra zur Verfügung, und es wäre für ihn nicht schwierig, sein Froschquaken zu verstärken – indem er zum Beispiel die Echos der Luftschächte auf dem Dach benutzt oder mit Hilfe anderer Tricks, die wir im Augenblick nicht erraten können. Er hatte jahrelang Zeit, um seine Technik zu vervollkommnen«, fügte ich hinzu, als ich mich an das körperlose Lachen erinnerte. Ponelle hatte eine Hand über seinen Mund gelegt und versuchte zu begreifen, was ich ihm erzählt hatte.
»Sie wollen damit sagen, daß mit der Stimme der Sorelli gar nichts verkehrt war?«
»Nicht das geringste. Der Schurke mußte sie nur jedesmal, wenn sie den Mund öffnete, um zu singen, mit seinen grausamen Lauten unterbrechen.« »Das ist ja …, das alles ist …« Er suchte nach Worten und schmiegte sich tiefer in seinen schäbigen Mantel hinein, als wäre da plötzlich etwas anderes als die Feuchtigkeit der Gruft, das ihn frösteln ließ.
»Grotesk? Bedenken Sie, Ponelle, es ist die einzige Theorie, die all die Tatsachen erklärt, die einzige Erklärung für seine unheimliche Fähigkeit, sich beliebig in der Opéra zu bewegen und jedes Wort zu hören, das gesprochen wird. Er allein kennt jeden einzelnen Winkel dieses Gebäudes. Warum? Weil er es selbst entworfen hat. Glücklicherweise«, fügte ich hinzu, »kennt er zwar die Opéra wie seine eigenen Westentasche, aber sein Königreich ist doch auf ihre Grenzen beschränkt.«
Noch ein paar Augenblicke länger saßen wir schweigend da. Dann begann Ponelle zu sprechen und bewegte sich unbehaglich auf seinem Platz hin und her. Seine Stimme klang seltsam gepreßt.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, begann er mit einer gewissen Zaghaftigkeit. »Nicht, wenn alles stimmt, was Sie sagen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Haben Sie von Baron Haussmann gehört, dem Erbauer der großen Boulevards von Paris?«
»Natürlich.«
»Aber vielleicht wissen Sie nichts von seiner anderen großen Leistung – der, auf die Haussmann sogar noch stolzer war«
»Auf welche Leistung spielen Sie an?«
Ponelle zeigte mit dem Finger nach unten.
»Auf das größte und modernste Abwassersystem der Welt.«
» Was? «
»Es erstreckt sich über die ganze Länge und Breite von Paris, Monsieur. Und wenn Orpheus Zugang dazu hat …«
»Kann er wie es ihm beliebt unter der Stadt herumspazieren!«
»Genau.«
In meiner Besorgnis stand ich auf, als würde ich von unsichtbaren Drähten gezogen.
»Wo gehen Sie hin?« rief er hinter mir her, als ich aus der Gruft lief. »Was soll ich mit Monsieur Garnier machen?«
KAPITEL ZWÖLF
Dem Himmel nahe
Atemlos holte Ponelle mich am Seitentor in der Nähe der Avenue Gambetta ein. Das große Schloß dort bereitete mir nicht mehr Schwierigkeiten als das an dem Schuppen des Totengräbers. Entschlossen widerstand ich all seinen Fragen.
»Verlieren Sie kein Wort über diese Angelegenheit, niemandem gegenüber«, wies ich ihn an, während wir eilig die verlassene Straße hinunterliefen. »Vergessen Sie, was Sie heute abend gesehen haben.«
»Das ist leichter gesagt als getan«, widersprach mir der unglückliche Geiger, dessen Gereiztheit jetzt, da wir einige Entfernung zwischen uns und jenen makabren Ort gelegt hatten, wieder aufkeimte. »Wir
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