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Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Sherlock Holmes und das Phantom der Oper

Titel: Sherlock Holmes und das Phantom der Oper Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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haben den Sarg eines großen Mannes geöffnet und ihn einfach so liegenlassen.«
    »Er befindet sich noch immer auf geweihtem Boden«, konterte ich fröhlich. »Ich bin gewiß, daß seine unsterbliche Seele keinen Schaden genommen hat, und seine irdischen Überreste haben dem Gang der Gerechtigkeit gedient. Kommen Sie, hier ist eine Droschke, und Sie sind naß bis auf die Knochen. Fahren Sie nach Hause, schlafen Sie sich gut aus, und dann sehe ich Sie morgen beim Opernball wieder.«
    Er war durchgefroren und müde genug, um meinen Anweisungen zu folgen.
    »Was werden Sie jetzt machen?« fragte er mich, nachdem er bereits in der Droschke Platz genommen hatte.
    »Ich bin auch völlig durchnäßt«, stellte ich fest. »Fahren Sie zu, Kutscher!«
    Ich brauchte eine ganze Weile, um zu dieser Zeit und an diesem Ort eine zweite Droschke aufzutreiben, und ich muß zugeben, daß ich, als ich endlich in meine Wohnung kam, vollkommen durchgefroren war, aber dieses umständliche Vorgehen diente dennoch meinen Zwecken; eine zweite Kutsche machte es mir möglich, Ponelles Fragen zu entgehen, die mittlerweile begonnen hatten, so dicht und schnell zu fallen wie Regentropfen.
    Nachdem ich endlich in meinen Räumen in der Rue Saint-Antoine war, schälte ich mir die durchnäßten Kleider vom Leib und warf mir einen alten Morgenmantel über. Da die Dinge, die ich als nächstes brauchte, mir vor Morgengrauen nicht zur Verfügung stehen würden, hatte ich nichts anderes zu tun, als ebenfalls zu versuchen, ein wenig Schlaf zu bekommen. Ich befürchtete allerdings, daß mir das kaum möglich sein würde. Meine Gedanken huschten beharrlich zwischen den Fakten und Vermutungen, die ich angehäuft hatte, hin und her – Fakten und Vermutungen, die einen bestimmten Sinn für mich ergaben. Das Ganze war wahrhaftig kein Spaziergang, Watson. Der Mann, auf den ich es abgesehen hatte, hatte beinahe dreißig Männer und Frauen getötet, und zwar mit einem Augenzwinkern, ganz so, als wäre der Kronleuchter nicht mehr gewesen als eine Fliegenklatsche. Ich gestehe Ihnen, mein lieber Freund, daß dies der einzige Zeitpunkt in der ganzen Angelegenheit war, zu dem ich mich nach dem besänftigenden Trost der Nadel sehnte. Ich lag im Bett und stellte mir vor, wie das Morphium sich langsam durch meine Venen stahl und mir einen trägen Frieden brachte. * Beim Gedanken an das Narkotikum und seine Wirkung muß ich mich irgendwie entspannt haben, denn schon bald brach der neue Tag herein.
    Wieder einmal war die Zeit gegen mich. Meinen letzten Versuch, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, hatte ich verpfuscht, was mir beim zweiten Versuch auf keinen Fall wieder passieren durfte. Nichtsdestoweniger hatte ich nur wenige Stunden, um meine Pläne zu schmieden und auszuführen. Ich hätte Ihre Hilfe gut gebrauchen können, Doktor, und dachte voller Reue an die Umstände, die mich Ihrer wertvollen Unterstützung beraubt hatten.
    Es war nach drei Uhr am folgenden Nachmittag, als ich in der Rue Gaspard ankam. Nachdem ich an Mutter Valerius’ Tür geklopft hatte, stellte ich zu meinem Verdruß fest, daß es eine ganz wesentliche Tatsache gab, die mir bei meinem letzten Besuch entgangen war. In meinem Eifer, Mademoiselle Daaé zu sprechen, war mir nicht aufgefallen, daß die Räumlichkeiten, die sie mit der älteren Kranken teilte, sich im Erdgeschoß befanden. Dieser Umstand war für Mutter Valerius überaus vernünftig, denn sie hätte sonst ihre Wohnung kaum ohne fremde Hilfe betreten oder verlassen können, aber auf diese Weise befanden sich die beiden Frauen auch in Hörweite eines entschlossenen Verfolgers. Mit Ponelles unerfreulicher Information bezüglich des allumfassenden Abwassersystems von Paris konnte ich leicht die Gegenwart des Geistes heraufbeschwören, die Gegenwart des Engels, Nobodys, des Gesangsmeisters, Orpheus’, des Phantoms. (Seine Liste von Decknamen war mittlerweile so lang wie mein Arm.) Ich konnte vor mir sehen, wie er unter Christines Schlafzimmer hockte und vielleicht mit Hilfe eines so einfachen Gegenstands wie dem Stethoskop eines Arztes jedes Wort hörte, das das arme Mädchen sprach. Kein Wunder, daß er ihre intimsten Gedanken zu kennen schien! Einem erfahrenen Mediziner, wie Sie es sind, brauche ich kaum zu erklären, Watson, welcher Gedanke mich als nächstes durchzuckte: Wenn einem Menschen ein Sinnesorgan fehlt, machen die anderen Überstunden, um den Ausgleich dafür zu schaffen. Man konnte sich vorstellen, daß das Ungeheuer, das

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