Sherlock Holmes und das Phantom der Oper
erreichen können.
»Vicomte! Raoul! Rufen Sie noch einmal nach Christine. Hören Sie, der Lärm hat aufgehört! Rufen Sie sie. Bitten Sie sie, den Raum zu beschreiben. Wir müssen wissen wie viele Türen es dort gibt.«
Er konnte mich nicht hören.
»Leutnant de Chagny, ich habe Ihnen einen direkten Befehl gegeben!«
Diese Ausdrucksweise hatte Erfolg, wo sanftere Versuche gescheitert waren. Die Ausbildung der École Navale setzte sich durch, und der junge Mann beeilte sich, die Anordnungen eines höheren Offiziers zu befolgen.
»Christine!«
»Raoul! O mein Liebster!«
»Christine!« rief der verzweifelte Junge. »Gibt es keine Tür zwischen uns? Kannst du nicht –?« Ein lautes Klirren und ein Ruf unterbrachen ihre Unterhaltung. »Raoul!«
» So! « rief eine schreckliche Stimme. Das Mädchen schrie.
Wir hörten, wie eine weitere Tür zugeschlagen wurde, und warteten, während der kleine Vicomte zitterte wie Espenlaub.
»So«, wiederholte ein vertrauter Bariton über unseren Köpfen. Er klang sanft wie ein Seufzen. »Wir haben also ungebetene Gäste.«
Ich blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und sah in dem kleinen Fenster über uns einen elfenbeinernen Totenkopf.
KAPITEL SECHZEHN
Das Phantom
Das wenige, was von der Kraft des Vicomte noch übriggeblieben war, verließ ihn bei diesem Anblick, und er fiel ohnmächtig zu Boden.
Die Kreatur und ich tauschten einen endlos scheinenden Blick. Ich war wie hypnotisiert, jetzt, da ich diesen eisigen Gesichtszügen so nahe gekommen war.
»Möchten Sie nicht Ihre Maske abnehmen?« fragte ich schließlich. Eine ganze Weile lang sagte er nichts. Ich begann schon zu glauben, daß er mich nicht verstanden hatte.
»Ich kann nicht«, gab er schließlich zurück, wobei seine Stimme wohltönend und gleichzeitig hohl klang, als käme sie aus einem Grab.
»Ich bitte Sie darum.«
»Es kann nicht sein.« Er schien zu zögern. Ich glaubte beinahe, das Glitzern seiner dunklen Augen, die mich aus dem Schutz der Maske anblickten, erkennen zu können. »Wenn ich das täte, könnte ich nicht sprechen.«
»Warum nicht?«
»Es war schon immer so. Seit ich ein Kind war. Meine Mutter hat mir verboten, ohne meine Maske zu sprechen. ›Sprich nicht ohne dein Gesicht‹, sagte sie immer zu mir. Jetzt habe ich mich so sehr an die Verbindung dieser beiden Dinge gewöhnt, daß ich nicht mehr anders kann.«
Mein überraschter Gesichtsausdruck rief ihm wieder ins Gedächtnis, was er eigentlich vorgehabt hatte.
»Ich hoffe, Sie verzeihen mir diese Störung«, sagte er mit einer melodischen Stimme, die das Ohr mit ihrer Zärtlichkeit geradezu betörte. »Obwohl ich für meinen Teil Ihnen nicht verzeihen kann.«
»Monsieur Edouard LaFosse, nicht wahr?«
Einen Augenblick lang blitzten die Augen hinter ihrem Versteck auf wie Kohlen vor dem Blasebalg in einem weit entfernten Feuer; dann war der Eindruck verflogen. Ich glaubte jedoch, daß er mich noch immer mit einem gehässigen Blick musterte.
»Ich bin Nobody.«
»Möchten Sie vielleicht lieber Englisch sprechen?« fragte ich, wobei ich das Stichwort aufgriff, um Zeit zu schinden. Wieder zögerte er.
»Ich möchte lieber überhaupt nicht sprechen.«
»Aber Sie waren einmal Edouard LaFosse«, beharrte ich, »der brillante Assistent von Monsieur Garnier.«
Er betrachtete mich mit ausdruckslosem Gesicht. »Die Männer, von denen Sie sprechen, sind tot«, stellte er entschlossen fest. »Nur Nobody hat überlebt. Was man von Ihnen unglücklicherweise nicht wird sagen können.«
»Und es war sehr klug von Ihnen, die Pläne des Gebäudes zu zerstören«, fuhr ich fort. Ich hoffte noch immer, ihn irgendwie ablenken zu können. »Aber Sie haben nicht daran gedacht, die Verträge zu zerstören, in denen Ihr Name erwähnt wird. Ich habe sie bei der städtischen Planungskommission gefunden, bevor ich gestern nachmittag meinen Besuch bei Mademoiselle Daaé gemacht habe.«
Er grunzte nur und drehte seinen Kopf hin und her, als versuche er, einen Schmerz in seinem Hals zu lindern. Oder warf er einen Blick über seine Schulter?
»War das Ihre Oper, die wir gerade gehört haben? Der Triumph des Don Juan ? Ich bin Musiker, wissen Sie. Die Musik hat mir überaus gefallen. Dürfte ich noch mehr davon hören?«
»Sie sind Sherlock Holmes, von dem die Welt bereits glaubt, er sei tot«, antwortete er mit häßlichem Hohn in der Stimme. »Ihre mühselige List ist an mich verschwendet. Unter diesen Umständen wird man Sie kaum
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