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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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er die Identität der Betreffenden aus Gründen beruflicher Diskretion nicht preisgeben wollte, aber ich glaube, daß ein sonst nur latent vorhandener Sinn für Humor, oder zumindest ein echtes Talent für anthropomorphische Assoziationen, in den Spitznamen zum Vorschein kam. Noch heute, wenn ich vor dem Einschlafen meine Gedanken wandern lasse, fallen mir die Tischgespräche im Freudschen Hause wieder ein, und ich muß lächeln, wenn ich an den Mann denke, der wie eine Ratte oder wie ein Wolf aussah. Und Anna O.? War sie vielleicht von bemerkenswert rundlichen Formen?
    Merkwürdigerweise war das einzige Familienmitglied, das Holmes eine positive Reaktion entlockte, eine andere Anna, Freuds kleine Tochter. Sie war ein bezauberndes Kind (ich habe im allgemeinen für Kinder nicht viel übrig * ), intelligent und liebenswert. Nach einem Tag hatte sie die schreckliche Angst vor Holmes’ Anfällen überwunden und begegnete ihm ganz unbefangen. Instinktiv war sie bei ihren Annäherungsversuchen sehr behutsam, aber Annäherungsversuche waren es dennoch. Einmal erbot sie sich nach dem Abendessen, ihm ihre Puppensammlung zu zeigen. Holmes akzeptierte die Einladung mit ernster und korrekter Höflichkeit, und die beiden begaben sich zu dem Schrank, in dem die Figuren aufbewahrt wurden. Ich wollte gerade aufstehen und ihnen folgen, als Freud mir signalisierte, sitzen zu bleiben.
    »Wir dürfen ihn mit unserer Zuwendung nicht ersticken«, lächelte er.
    »Oder Anna«, lachte Frau Freud und klingelte nach mehr Kaffee.
    Am nächsten Morgen – ich lag im Bett und rieb mir den Schlaf aus den Augen – hörte ich zu meinem Erstaunen Stimmen aus dem Nachbarzimmer. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte auf kurz vor acht. Den Geräuschen nach zu urteilen, die von unten zu mir heraufdrangen, war Paula in der Küche und die übrige Familie noch im Bett. Wer konnte das sein?
    Ich stahl mich vorsichtig zur Verbindungstür und spähte durch den Spalt. Holmes saß im Bett und unterhielt sich friedlich mit der kleinen Anna, die sich auf dem Fußende niedergelassen hatte. Verstehen konnte ich nichts, aber die Konversation war offensichtlich angenehmer Natur. Anna stellte Fragen, und Holmes tat sein Bestes, sie zu beantworten. Einmal hörte ich ihn leise lachen und schlich mich fort, um nicht durch ein unbedachtes Geräusch zu stören.
    Nach dem Frühstück entschloß sich Holmes, im Arbeitszimmer Dostojewski zu lesen (er hoffte, eine französische Ausgabe zu finden), statt uns zum Maumberg, Freuds exklusivem Club, zu begleiten, wo wir Hallentennis spielen wollten.
    »Dr. Watson wird Ihnen meine ausgeprägte Geringschätzung der Leibesübung um ihrer selbst willen bestätigen«, sagte er lächelnd, als wir an der Tür zögerten, um ihn doch noch zum Mitgehen zu überreden. »Sie dürfen es wirklich nicht meiner Krankheit zuschreiben, daß ich hierbleibe.«
    Freud hielt es für besser, nicht weiter zu drängen, und wir ließen Holmes in der Obhut der Damen – Frau Freud, Paula und der kleinen Anna.
    Der Maumberg, südlich der Hofburg gelegen, unterschied sich beträchtlich von den Clubs, die ich in London kannte. Sport spielte darin die Hauptrolle. Für den sozialen und intellektuellen Austausch waren die Kaffeehäuser der Stadt zuständig.
    Wohl gab es ein Restaurant und eine Bar, aber Freud pflegte sich weder dort aufzuhalten noch mit den Clubmitgliedern zu verkehren. Er spielte, wie er mir sagte, gerne Tennis und benutzte den Club nur zu diesem Zweck. Ich selbst war kein Tennisspieler (mein Arm * machte das unmöglich), aber ich wollte den Club gerne sehen und auch für eine Weile dem niederdrückenden Einfluß von Holmes’ Problemen entfliehen, die mich ununterbrochen beanspruchten und deprimierten. Freud hatte das zweifellos gespürt und mich deshalb mitgenommen.
    Die Tennisplätze befanden sich in einer riesenhaften Halle, einer Eisenkonstruktion, die ein wenig einem Gewächshaus glich. Enorme Oberlichter ließen die Sonne ein, außerdem war die Halle während der Wintermonate geheizt. Die Plätze selbst waren aus stark poliertem Holz, auf dem die Bälle von verschiedenen, gleichzeitig stattfindenden Spielen in scharfer Dissonanz aufschlugen.
    Als wir den Ankleideraum betraten, in dem der Doktor sein Tenniskostüm aufbewahrte, passierten wir eine Gruppe junger Männer, die ihre Füße auf die Bänke gelegt und ihre Handtücher lässig um den Hals geschlungen hatten und aus hohen, engen Gläsern Bier tranken. Als wir an ihnen vorbeigingen,

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