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Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud

Titel: Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicholas Meyer
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interessiert. »Es scheint die praktischste Lösung.«
    »Es wäre noch praktischer gewesen, wenn er sich ihrer zur selben Zeit entledigt hätte, zu der sein Vater starb, oder nicht?«
    Die Frage erregte Holmes’ Aufmerksamkeit, und er wandte sich ganz dem Doktor zu. Freud ergriff die Gelegenheit und fuhr fort.
    »Das wäre doch fraglos die einfachste Lösung gewesen. Man arrangiert einen Unfall, bei dem beide ums Leben kommen, und erbt automatisch den ganzen Besitz. So steht es im Testament, und das muß er gewußt haben.«
    Holmes runzelte die Stirn.
    »Warum hat er es nicht getan?« grübelte er.
    »Wollen Sie meine Theorie hören?«
    Holmes nickte, und seine Augen wurden lebendig bei dem Gedanken, daß noch nicht alles verloren sei.
    »Es würde zu lange dauern, meine Recherchen in ähnlichen Fällen im einzelnen zu beschreiben«, begann Freud, »aber ich bin davon überzeugt, daß der junge Mann seine Stiefmutter mit einer Leidenschaft haßt, die nicht nur darauf beruht, daß sie ein Hindernis für seine politischen oder finanziellen Pläne darstellt.«
    »Wie ist das möglich?« unterbrach ich unwillkürlich. »Man kann doch annehmen, daß er sie nur flüchtig kennt, wie kann er da einen solchen Haß entwickelt haben?«
    Freud wandte sich mir zu.
    »Aber Sie werden zugestehen, daß sein Verhalten gegenüber seiner Stiefmutter abscheulich war?«
    »Oh, allerdings.«
    »So abscheulich –«, die Droschke schleuderte nach einer Seite, unterbrach Freuds Redefluß und ließ uns für einen Moment in Erwartung erstarren, »so abscheulich, daß er – sowohl ein Mord viel simpler gewesen wäre – es vorzog, sie am Leben zu lassen, sie einzukerkern, sie aufs unerträglichste und bis zum Wahnsinn zu foltern, eine Entscheidung, die sich als gefahrbringend für ihn erwiesen hat.«
    Holmes nickte und schürzte nachdenklich seine Lippen.
    »Also müssen wir«, fügte Freud hinzu, während wir uns dem Hospital näherten, »unter Anwendung unserer Methode auf ein anderes Motiv schließen. Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteile, daß dieser fanatische Haß schon bestand, bevor er die Frau seines Vaters traf, und auch gegen jede andere Ehepartnerin bestanden hätte?«
    »Was?«
    »Sehen Sie, daß außerordentliche Verhalten des jungen Mannes gegenüber seiner Stiefmutter kann nur auf eine Weise ausgelegt werden: Das Andenken seiner eigenen Mutter ist ihm so teuer, daß die Handlungen seines Vaters und der anderen Frau ganz elementare Tiefen seiner Persönlichkeit aufgewühlt haben. Für den Betrug des Vaters an seiner ersten Frau: die sofort vollzogene Todesstrafe. Für die Stiefmutter: qualvolles Überleben, auch wenn es unter anderen Gesichtspunkten unpraktisch erscheint. Das ist die einzige Theorie, die sich mit allen Fakten deckt, und, wie Sie, Herr Holmes, gelegentlich feststellen, ist die Wahrheit das, was übrigbleibt, wenn man die Unwahrscheinlichkeiten ausgeklammert hat – und sei sie noch so befremdend. Ich habe Ihre Methode korrekt angewendet, nicht wahr? Dann können wir also davon ausgehen, daß die Frau, wenn auch bedroht, noch am Leben ist. Hier sind wir.«
    Holmes starrte ihn eine Sekunde lang an, dann sprang er aus dem Wagen und stürzte, den Wärter an der Hand mit sich ziehend, zum Tor. Dr. Freud und ich folgten, nachdem wir dem Fahrer aufgetragen hatten, auf uns zu warten.
    Man brachte uns sofort zu dem Pförtner, der Freuds Patientin entlassen hatte. Er sprach mit enervierender Genauigkeit und verbreitete sich wichtigtuerisch über seine persönliche Einstellung zu der unvorschriftsmäßig erfolgten Abreise der Patientin.
    »Wenn das nun jeder täte, einfach einen Brief vorzeigen, ohne richtig –«, Holmes unterbrach ihn ohne viele Umstände.
    »Beschreiben Sie bitte die Personen, die sie abholten«, forderte er ungeduldig, woraufhin der Mann sich langsam umdrehte und ihn musterte. Sein Verhalten beim Anblick meines aufgeregten Freundes – der dazu noch fremdartige Kleidung trug – ließ keinen Zweifel darüber, daß er in ihm einen potentiellen Insassen der psychiatrischen Abteilung vermutete.
    »So lassen Sie uns doch nicht warten!« flehte ich, da der Mann gänzlich verstummt war. »Die Sache ist äußerst dringlich.«
    »Beschreiben?« wiederholte der Dummkopf in aller Ruhe. »Gott helf mir, die kann ich nicht beschreiben. Aber Sie kennen die Leute doch«, wandte er sich an Freud.
    »Ich?« erwiderte Freud verblüfft. »Ich würde Sie doch nicht um eine Beschreibung bitten, wenn sie

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