Sherlock Holmes und der Fall Sigmund Freud
und erhöhte Geschwindigkeit spürte. Hätte ich ihn nicht eisern festgehalten, wäre Holmes in seinen Tod gestürzt.
Ich hielt ihn fest und zog ihn langsam in den Tender, eine Aufgabe, die endlos zu dauernd schien und die ich nicht gerne noch einmal bewältigen möchte. Nachdem er sicher gelandet war, nickte Holmes heftig und beugte sich vor, um Atem zu schöpfen.
»Keiner soll sagen, Sie wären nicht mehr als mein Boswell, Watson«, stieß er hervor, als er wieder sprechen konnte, »keiner soll das sagen.«
Ich lächelte und folgte ihm durch den Tender, den wir mit Vorsicht überquerten, da immer noch Schüsse in unsere Richtung abgefeuert wurden. Allerdings war bei der Distanz und dem Tempo die Verwundung des Lokomotivführers wirklich eher zufällig gewesen.
Wir gelangten wieder in die Zugmaschine und blickten hinaus. Es gab keinen Zweifel mehr, wir waren dabei, den Zug des Barons einzuholen. Ich schlug vor, auch den Tender abzuhängen, da er sowieso keinen Brennstoff mehr enthielt, aber Berger warnte uns, daß er als Gegengewicht diene und daß es bei unserer Geschwindigkeit gefährlich sei, auf ihn zu verzichten.
Wir hatten jeden Fetzen brennbaren Materials verbraucht; wir hatten das Fahrgestell unseres eigenen Wagens abgehängt. Mehr konnten wir nicht tun. Konnten wir jetzt den Zug nicht einholen, dann waren alle unsere Bemühungen umsonst. Mir schauderte bei dem Gedanken an die internationalen Auswirkungen unserer Grenzüberquerung, ganz zu schweigen von der Art und Weise, mit der wir die Dienstvorschriften der Eisenbahn mißachtet hatten. Beschädigung von Eigentum der Bahn – das konnte man wohl sagen!
Ich konnte sehen, wie die Nadel an dem Druckmesser von ihrer bisher konstant gebliebenen Position (einige Grade rechts von der roten Gefahrenzone) abwärts sank, und Holmes stieß einen Seufzer aus, den man über das Röhren der Kolben und des Kessels hinweg vernehmen konnte.
»Wir haben verloren«, schrie er.
Und so wäre es auch gekommen, hätte der Baron, in seinem Drange zu entrinnen, nicht einen entscheidenden Fehler begangen. Ich hatte gerade ein gekünsteltes Wort der Ermunterung auf den Lippen, als mir der letzte Wagen vom Zug des Barons ins Auge fiel, der mit bedrohlicher Geschwindigkeit auf uns zuzukommen schien.
»Holmes!« Ich zeigte in die Richtung. »Er hat einen seiner Wagen abgehängt!« Berger hatte es fast gleichzeitig gesehen und warf die Hebel um, so schnell er konnte. Ich spürte, wie die Räder unter uns erstarrten, und sah die Funken von den Schienen sprühen. Zwanzig quälende Sekunden lang sausten wir quietschend, ohne merklich vermindertes Tempo, auf den Wagen zu. Jeder bereitete sich auf den Zusammenstoß vor, und Freud hielt den verwundeten Fahrer, aber im letzten Moment wurde uns klar, daß nichts geschehen würde. Der Baron hatte sich der Bürde an einem Gefälle entledigt, und der Wagen, der vorher mit scharfem Tempo gezogen worden war, rollte jetzt, den unumstößlichen Gesetzen der Triebkraft folgend, in munterer Fahrt vor uns durch die Berge. Er war allerdings langsam genug, um uns zu rammen, wäre Bergers Reaktion nicht so prompt gewesen.
Holmes, der die Situation durchschaute, warf seine Pelerine ab und bewegte sich auf das Vorderteil der Maschine zu.
»Öffnen Sie!« schrie er. »Wir können uns anhängen!«
Die Verwegenheit des Vorhabens ließ Berger einen Moment zögern, dann nickte er und öffnete die Klappe. Die Stangen, die am Kessel entlangliefen, waren heiß, und Holmes mußte seine Jacke ausziehen, um seine Hände zu schützen, während er sich an der schweren Lokomotive entlang arbeitete.
Freud, Berger, der Lokomotivführer (der auf die Füße gekommen war) und ich sahen atemlos zu, wie Holmes sich Zentimeter für Zentimeter voranbewegte, während der abgehängte Wagen des Barons wieder bedrohlich näher rückte.
Aber Berger war der Meister seines Fachs und glitt, so sanft es bei der Geschwindigkeit beider Fahrzeuge überhaupt möglich war, an den Wagen heran. Es gab einen kurzen Stoß, doch weder Lokomotive noch Wagen entgleisten, und als das Gefälle in eine Steigung überging, machte unser neuer Waggon keinerlei Schwierigkeiten.
Es gelang Holmes, ihn zu erklimmen, und er winkte uns, ihm zu folgen. Ich wollte mich aufmachen, aber Freud hielt mich am Arm fest.
»Das können Sie Ihrem Bein nicht zumuten«, schrie er mir ins Ohr. Er zog wie Holmes seine Jacke aus und folgte dem Detektiv.
Er kehrte bald darauf mit einem Bündel Vorhänge zurück,
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