Sherlock Holmes und die Theatermorde
aufhielt, fiel ein braunes Pünktchen auf seine Handfläche. Ich sah verdutzt zu, wie er die Prozedur an seinem linken Auge wiederholte.
»Was in aller Welt –«, setzte ich an.
»Besehen Sie sich nur diese unübertroffenen Verwandlungswerkzeuge, Watson.« Er streckte die Hand aus und ließ mich die kleinen Dinger betrachten. »Seien Sie vorsichtig. Sie sind aus Glas und sehr empfindlich.«
»Aber was sind sie?«
»Mein ganz spezieller Trick, den einzigen Teil des Gesichts abzuwandeln, der mit Schminke nicht zu verändern ist. Ich bin nicht der Erfinder«, beeilte er sich, mir zu versichern, »aber wohl der erste, der diese kleinen Gegenstände zu einem solchen Zweck verwendet.«
»Zu was für einem Zweck sind sie denn gedacht?«
»Zu einem ganz spezifischen. Vor über zwanzig Jahren fand ein Deutscher – er lebte in Berlin –, daß er aufgrund einer Infektion im inneren Lid, die auf die Augen übergriff, im Begriff war, zu erblinden. Er entwarf ein konkaves Stückchen Glas – etwas größer als diese und natürlich durchsichtig –, das zwischen Lid und Cornea eingesetzt und durch die Saugkraft der Augenoberfläche festgehalten wurde. Es verhinderte eine weitere Infektion und erhielt seine Sehkraft. * Ich habe über seine Untersuchungen gelesen und seinen Entwurf mit dem vorliegenden Ergebnis leicht abgewandelt.«
»Aber wenn das Glas zerbricht!« Ich wand mich bei dem Gedanken.
»Das ist unwahrscheinlich. Solange man sich nicht die Augen reibt, ist kaum damit zu rechnen, daß irgend etwas das Glas direkt berührt. Ich benutze sie selten – es ist nicht leicht, sich an sie zu gewöhnen, und ich kann sie nur ein paar Stunden lang ertragen. Danach fangen sie an zu schmerzen, und wenn etwas Staub ins Auge gerät, schluchze ich wie bei einem Begräbnis.«
Er nahm die kleinen Scheibchen wieder an sich und verstaute sie in einem Behälter, der offenbar diesem Behufe diente.
»Sie könnten sich fürs Leben verletzen«, warnte ich, da ich mich als Mediziner verpflichtet fühlte, ihn auf die Gefahren hinzuweisen.
»Von Bülow trug sie zwanzig Jahre lang, ohne sich Schaden zuzufügen. Außerdem habe ich mich von Ihrem Freund Dr. Doyle beraten lassen. Er ist so sehr in seine literarischen Aktivitäten vertieft, deshalb vergessen wir immer, daß er auch Augenspezialist ist. Er hat mir mit seinen Vorschlägen für meine Modifizierung sehr geholfen. Die Firma Zeiss hat sie mir geschliffen«, fuhr er fort, während er den Behälter einsteckte, »nur wußten sie wohl nicht, zu welchem Zweck. Und jetzt«, er füllte seine Pfeife und hielt mir die Teetasse hin, »berichten Sie mir von Bernard Shaw.«
Ich verarbeitete die rasch aufeinander folgenden Überraschungen, so gut ich konnte, goß den Tee ein und gab in wenigen Worten wieder, was sich im Café Royal zugetragen hatte. Von der einen oder anderen gezielten Frage abgesehen, lauschte Holmes schweigend, zog regelmäßig an seiner Bruyèrepfeife und nippte seinen Tee.
»Er dachte also, es sei ein Scherz?« bemerkte er zu Shaws Auslegung der mysteriösen Attacke. »Was für wunderliche Dinge doch in seinem Kopf vorgehen müssen.«
»Ich glaube, er hat sich weiter keine Gedanken darüber gemacht – er wollte es wohl nicht.« Ich ertappte mich dabei, den Kritiker zu verteidigen. »Er hatte es zu eilig, Wildes habhaft zu werden.«
»Hm. Ich frage mich, wer noch gezwungen worden ist, diese Medizin zu schlucken.«
»Sie halten es also nicht für einen Scherz?« fragte ich, obwohl ich die Antwort im voraus wußte.
Er lächelte. »Sehr komisch war es auf jeden Fall nicht, finden Sie nicht auch?«
»Und was haben Sie heute nachmittag herausgefunden?« wollte ich wissen.
Er erhob sich und begann, den Raum zu durchschreiten, die Hände tief in den Taschen seines Morgenrocks vergraben. Den Rauch aus seiner Pfeife stieß er wie eine Lokomotive aus. Es schien ihm nicht aufzufallen, daß ich den Fußboden für ihn freigelegt hatte.
»Zunächst stattete ich Mr. Stokers geheimer Wohnung in Porkpie Lane einen Besuch ab«, berichtete er. »Ich ermittelte (ohne sein Wissen), daß er für beide Morde kein Alibi hat. Ich brachte, wie Sie, seinen richtigen Vornamen und seine frühere Betätigung als Theaterkritiker in Erfahrung. Dann begab ich mich zu Jessie Rutlands ehemaliger Wohnung (nahe Tottenham Court Road) und sprach mit ihrer Wirtin. Sie war zurückhaltend, aber hilfreich, ohne es selbst zu merken.«
»Das fügt sich alles prächtig in die Theorie, die ich den
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