Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
selbst in zahllose Schwierigkeiten. Hätte Holmes ihn nicht einmal in letzter Sekunde entlasten können, hätte er sein Ende als Mörder am Galgen gefunden. Bei Ausbruch des Weltkrieges schließlich meldete er sich aus Verzweiflung über das eigene Leben freiwillig zur Königlichen Marine. In der Skagerrak-Schlacht am 31. Mai 1916 explodierte sein Schiff, der Schlachtkreuzer Indefatigable , nach 170 Salven aus den 28-cm-Rohren des deutschen Großkreuzers Von der Tann und sank binnen weniger Minuten. Nur vier der mehr als tausend Mann Besatzung auf der Indefatigable überlebten die Katastrophe. Er gehörte nicht zu den Glücklichen.
Ein gnädiges Schicksal ersparte Warrens Mutter, dies alles mitzuerleben. Einer unserer führenden Orientalisten bat sie bald nach den Ereignissen auf Henstiffle Bow Hall um die Ehre, seine Frau zu werden. Sie willigte ein, doch sie starb – es waren noch etliche Jahre bis zum Ausbruch des Weltkrieges – vor der Geburt ihres zweiten Kindes an den Folgen einer Influenza-Epidemie, bei der auch die wackere Mrs. Thorndyke ihr Leben ließ. Ich habe Holmes nie wieder so still und introvertiert, ja so deprimiert gesehen wie in den Wochen nach Madame Lians Beerdigung ...
SHERLOCK HOLMES UND DIE VERSCHWUNDENE WITWE
»Dieser Fall«, meinte Sherlock Holmes später, »führte mir wieder einmal vor Augen, wie untrennbar Politik und kriminelles Handeln oft miteinander verwoben sind. Meine Geisteskräfte waren nicht besonders gefordert, aber es dauerte lange, bis ich das entwürdigende Gefühl überwunden hatte, von Staatsorganen wie ein Verbrecher behandelt worden zu sein.«
1889 war für meinen Freund ein ereignisreiches Jahr. Anfang Februar wurde er nach Wien gerufen, um unter Wahrung der allergrößten Diskretion die Todesumstände des unglücklichen Kronprinzen Rudolf und seiner Geliebten Mary Vetsera im Jagdschloss Mayerling aufklären zu helfen. 18
Bereits wenige Monate später wurde er vom französischen Staatspräsidenten Carnot persönlich erneut auf den Kontinent, und zwar nach Paris gebeten, wo aus Anlass des einhundertjährigen Jubiläums der Französischen Revolution am 6. Mai die Exposition Universelle eröffnet werden sollte. Die Franzosen wollten den Kalinoor ausstellen, den berühmten Zwillingsbruder des Kohinoor, der seit 1850 zu den britischen Kronjuwelen gehört. Die beiden Steine sollen bei der Teilung des legendären Großmogul entstanden sein, der nach dem Schleifen 240 Karat gewogen haben soll. Sherlock Holmes sollte einen eventuell geplanten Diebstahl des Steins verhindern. Und so begaben wir uns Ende April nach Paris, wo der wackere elsässische Ingenieur Alexandre Eiffel gerade letzte Hand an sein mehr als tausend Fuß hohes Meisterwerk legte, das einige Künstler damals als Schwindel erregenden lächerlichen Turm verdammten.
Da mein Freund rasch herausfand, dass sich eine Diebesbande eines dressierten Äffchens bedienen wollte, um das Kleinod zu stehlen, verfügten wir plötzlich über mehr freie Zeit, als wir erwartet hatten, und konnten uns den Sehenswürdigkeiten der Stadt widmen. Holmes trieb sich in Museen und der Oper herum und lernte den Schriftsteller Jules Verne kennen, dem er später einmal einen Dienst erweisen sollte, und ich studierte das Pariser Leben. Vor allem das Leben der reizenden Demoiselles. Da die Zeitungen unsere Anwesenheit gemeldet hatten, war es ohnehin besser, getrennt die Stadt zu erkunden, sonst hätten wir uns vor begeisterten Bewunderern nicht retten können.
Wie erstaunt war ich, als eines Abends bei meiner Rückkehr in unser Hotel, dem St. James and Albany in der Rue de Rivoli, vor dem Entrée ein Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren auf mich zustürzte und mich in die Hotelhalle zog. »Onkel Watson, Onkel Watson!«, rief sie auf Englisch. So laut, dass jeder es hören musste. »Wie schön, dass ich dich endlich antreffe!«
Ich fasste mich schnell und beschloss galant, das Spiel mitzuspielen, was immer sich daraus ergeben mochte.
»Ach, mein Kind!«, stieß ich geistesgegenwärtig hervor. »Welch freudige Überraschung!«
Sie küsste mich herzlich auf die Wange, ganz wie man es bei einem lieben alten Onkel zur Begrüßung tut. »Ich bin Engländerin und muss unbedingt Sherlock Holmes sprechen!«, flüsterte sie mir zwischen zwei Küssen ins Ohr. »Sie sind doch sein Freund! Bringen Sie mich zu ihm. Mein Fall wird ihn interessieren.«
»Wie geht es Mutter?«, improvisierte ich.
»Mutter ist verschwunden!«
»Das hört sich
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