Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
Wie auch immer, Mrs. Thorndyke plante, ihren liederlichen Neffen zu enterben und statt seiner eine entfernte Verwandte einzusetzen. Roger wusste das, ein Termin beim Notar war schon vereinbart. Das bedeutete Zeitdruck für die beiden. Die Sache musste zu einem raschen Ende gebracht werden, sonst wäre alles umsonst gewesen. Mrs. Thorndyke hat uns auf ihr schwaches Herz hingewiesen. Das wollten sich die beiden zunutze machen, doch ihr Opfer ließ sich einfach nicht zu Tode erschrecken. Trotzdem war das Gespenst nützlich als Ablenkungsmanöver und Roger sorgte dafür, dass die Menschen aus der Umgebung davon erfuhren. Sogar der Kutscher, der Dr. Watson und mich hierher brachte, warnte uns. Das hatte natürlich den Zweck, Mrs. Thorndykes Tod als natürlich darzustellen. Sie ist eben vor Schreck gestorben, hätte man gesagt, und wahrscheinlich keine weiteren Untersuchungen angestellt. In Wirklichkeit wurde ihr Dahinscheiden von langer Hand vorbereitet. Sie sollte den Unsichtbaren Tod sterben. Die Vorbereitungen hierzu sollte der Spuk verschleiern helfen.
Dazu musste zunächst einmal der Hund Vinc ausgeschaltet werden, denn er kannte ja Ai und Roger und hätte sie sicherlich verraten, wenn sie auf Henstiffle Bow Hall herumgegeistert wären. Dem Hund wurde ein Lauf gebrochen, um ihn einzuschüchtern, und wer weiß, wie Roger ihn sonst noch gequält hat. Roger war ein grausamer Mann mit mannigfaltigen Kenntnissen und Fertigkeiten. Der Erfolg war, wie ich den Worten von Mrs. Thorndyke entnehmen konnte, dass sich Vinc in der Folge immer, wenn Roger oder das Gespenst sich näherten, winselnd irgendwo verkroch. Im Zusammenhang mit dem Auftreten des Gespenstes verschwanden nun scheinbar willkürlich Gegenstände, darunter eine Schere oder ein Buch, die in diesem Fall keine Rolle spielten. Mein Argwohn wurde erregt durch den Hinweis von Mrs. Thorndyke, eine Mokkamühle sei verschwunden und später wieder aufgetaucht, und Roger habe, angeblich in berauschtem Zustand, mehrere Kristallgläser zerschlagen.
Das konnte nur bedeuten, dass die beiden Glas mahlen wollten. Einem Kenner chinesischer Mordmethoden musste dies sofort ins Auge fallen. Vor diesem Hintergrund boten die Ereignisse kein Geheimnis mehr. Nun wussten die beiden aber nicht, wie sicher die gewählte Methode war. Also probierten sie sie an dem bedauernswerten Vinc aus. Die Symptome des toten Tieres, die Mrs. Thorndyke beschrieb, beseitigten alle Zweifel meinerseits. Zu Ihrem Glück, Mrs. Thorndyke, waren Sie so klug, mich heimlich aufzusuchen.«
»Gut und schön, Mr. Holmes«, schaltete sich jetzt Lestrade ein. »Sie sprachen von einem Kenner chinesischer Mordmethoden. Wie sind Sie einer geworden?«
»Sie treffen wieder einmal genau den Punkt, Lestrade. Ich könnte jetzt einfach sagen: Es ist mein Beruf, solche Dinge zu wissen , aber das klänge etwas hoffärtig. Nun, wie Sie wissen, habe ich – nicht ganz freiwillig übrigens – einige Zeit im Fernen Osten verbracht und nicht nur den Tenno in Japan beraten, sondern auch China bereist und dort geholfen, einige interessante Fälle zu klären. Bei einem spielte der Unsichtbare Tod die Hauptrolle. Natürlich befasste ich mich auch mit der Peking-Oper und dem Theater. Deshalb kann ich Ihnen so genau erklären, wie Ai – die das Gespenst darstellte – vorging. In China gibt es das hei xìjù , das so genannte Schwarze Theater . Schwarz geschminkte Schauspieler bewegen sich in schwarzen Trikots mit bunten Kostümen und Masken darüber vor einem ebenfalls schwarzen Hintergrund auf zum Teil erstaunliche Weise. So scheinen die von ihnen verkörperten Figuren schweben zu können oder Gliedmaßen verlieren und dergleichen mehr. Im Laufe unseres neunzehnten Jahrhunderts gelangte diese Bühnentechnik ins europäische Varieté. Auf der Weltausstellung in Paris war eines zu sehen. Mrs. Thorndyke berichtete zum Beispiel, das Gespenst habe seinen Kopf vom Körper getrennt schweben lassen. Der Trick ist denkbar einfach.«
Holmes beugte sich zur Seite und zog aus dem Stapel Kleider auf dem Tisch eine gespenstisch fluoreszierende Maske an einem langen Stab. »Der Schauspieler zieht eine Art schwarzen Strumpf über den Kopf und trägt diese Maske darüber. Die Maske hat einen Handgriff unter dem Kinn. Im gewünschten Moment löst der Schauspieler das Band, mit dem die Maske befestigt ist, und bewegt die Maske am Handgriff frei durch den Raum. Da man seinen richtigen Kopf nicht erkennen kann, sieht das aus, als ob sein Gesicht
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