Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
Stil Ragtime genannt wird. Mr. Cody war so freundlich, mir eine Notenmappe aus dem Besitz des verstorbenen Mr. Brannagan zu überlassen, damit ich üben kann. Diese Musik ist recht schmissig, aber meinen Ohren fremd. Die werde ich natürlich offen halten, desgleichen die Augen. So! Nun wollen wir Mrs. Hudson noch einmal um eine kräftige Mahlzeit bitten. Wer weiß, wann wir wieder etwas Vernünftiges vorgesetzt bekommen!« Er läutete und Mrs. Hudson servierte uns ein opulentes Abendessen.
»Ist die Kunstschützin verdächtig?«, wollte ich zwischen zwei Bissen wissen. »Ich meine, weil sie das Schwirrholz überbracht hat?«
»Keinesfalls. Wenn sie irgendetwas mit dem Mord zu tun hätte, wäre es ein ausgesprochen unkluger Schachzug von ihr gewesen, Ihnen das Corpus delicti selbst zu überbringen. Sie hätte es ja nur einfach irgendwo ins Feuer werfen müssen und wir hätten nie erfahren, wieso Goliath auf Jake Brannagan herumtrampelte. Aber vielleicht weiß sie mehr, als sie zugeben möchte ... Nein, ich verdächtige sie nicht.«
Mehr war Holmes an diesem Abend nicht zu entlocken. Er studierte Partituren. Auf weitere Fragen bekam ich keine Antworten mehr. Holmes war offenbar noch nicht so weit.
Da der Tag so ereignisreich gewesen war, hatte ich Mrs. Hudson um einen Krug Bier gebeten. Der Gerstensaft hatte die gewünschte Wirkung und ich wurde müde. Nachdem ich Holmes viel Glück gewünscht hatte, zog ich mich zurück. Als ich im Bett lag, konnte ich gerade noch die Petroleumlampe löschen. Als mein Kopf auf dem Kissen zu liegen kam, schlief ich bereits.
Am nächsten Morgen – Holmes war offensichtlich schon unterwegs – packte ich die nötigsten Instrumente in meine Arzttasche und fuhr zum Zirkusgelände hinaus. Dort veranstaltete Mr. Cody eine Art Befehlsausgabe, zu der sich alle an dem Riesenunternehmen Beteiligten versammelten. Einen Fuß gewichtig auf einen Stuhl gestellt, erteilte er einer großen Menschenmenge seine Anweisungen. Fast sah er aus wie ein Politiker, der eine Wahlrede hielt. Von ferne erblickte ich auch Holmes. Natürlich mussten wir so tun, als kannten wir einander nicht. Ohne meinen Namen zu nennen – den er wahrscheinlich ohnehin nicht mehr wusste –, präsentierte Mr. Cody mich den Versammelten als neuen Arzt und empfahl mich allen Kranken und Verletzten. Dann begleitete mich Major Burke zu einem Wohnwagen, in dem ich einen Raum als Praxis herrichten sollte. Hinter einem Vorhang stand ein Feldbett, mein Lager für die nächsten Tage. Als erstes schrieb ich auf einen Pappkarton das Wort Arzt und heftete ihn an die Tür. Ob das viel helfen würde, wusste ich nicht. Können Indianer lesen? Verstehen Kamelreiter aus dem Maghreb Englisch?
Dann ließ ich mir eine Waschschüssel zum Händewaschen bringen und begann, auf Patienten zu warten. Ich hatte mir vorsichtshalber genügend Lektüre eingepackt, doch wider Erwarten sollte ich nicht viel Zeit zum Lesen haben. Erst musste ich bei einem Tierpfleger einen Abszess am Fuß öffnen und verbinden, dann einem Cowboy erklären, dass er sich die Kugel in seiner Schulter im Krankenhaus herausoperieren lassen müsse, wenn er keine Schmerzen mehr haben und seine volle Beweglichkeit wiedererlangen wollte. Die Untersuchung eines kahl geschorenen Kosaken in ledernen Reitstiefeln, der mich in Zeichensprache über seine Leibschmerzen informieren wollte, konnte ich mir sparen. Sein alkoholgeschwängerter Atem warf mich fast um, und als er seinen Russenkittel hob, sah ich bereits von außen, ohne Abtasten, seine dick geschwollene Leber. Ein schwerer Alkoholiker!
» Bolsche njet Wodka «, verbot ich ihm, sicherlich grammatisch völlig falsch, mit den wenigen Worten Russisch, die ich kenne, den weiteren Genuss dieses Getränks und schüttelte den Kopf.
» A to smert «, drohte ich.
Er schien vor dem smert , dem Tod, keine Angst zu haben, denn er zog eine schmutzige Blechflasche aus der Tasche und bot mir einen Schluck an. Ich lehnte dankend ab. Da nahm er selber einen großen Schluck. Als er mich zum Abschied küssen wollte, warf ich ihn hinaus. Der Kosake war für diesen Tag mein letzter Patient. Nun hatte ich Zeit, mich ein bisschen auf dem Zirkusgelände umzusehen und vielleicht zu erfahren, was mein Freund so trieb. Ich folgte einfach meinen Ohren zu einem Zelt, in welchem die Cowboy-Kapelle probte. Ich trat ein und erblickte in einer Schar von Musikern meinen Freund Holmes mit seiner Geige. Die anderen spielten Banjo, Trompete, Tuba, Gitarre,
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