Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
wurde, kann man sich denken, dass dieser John Doe Brannagans Vorgesetzter oder Vertrauensmann war. Dummerweise war Brannagan recht sorglos und telegrafierte von der hiesigen Telegrafenstation aus. Dabei muss er beobachtet oder belauscht worden sein, oder das Telegrafenfräulein hat jemandem den Inhalt seines Telegramms verraten. Die Welt des Zirkus ist winzig klein. Ich dagegen ging keinerlei Risiko ein und schickte Miss Oakley aufs Telegrafenamt in der Stadt. Sie gab in meinem Auftrag ein Telegramm an den emeritierten Professor Everhard von der Universität London auf, einen unserer versiertesten Ostkundler. Wenn ich mich der Telegrafenstation auf dem Zirkusgelände bedient hätte, hätte der Mörder womöglich erfahren, dass ich ihm auf die Spur komme. Kurzum: Foma Glagoltschik, auf Englisch Thomas Wörtchen , ist laut Professor Everhard das Pseudonym eines radikalen russischen Journalisten und Literaturkritikers. Eines üblen Verrisstechnikers, wie sich Professor Everhard ausdrückt. Er war früher Kavallerieoffizier. Im Krimkrieg als junger Leutnant schwer verwundet, seither gehbehindert. Später sei er einem nihilistischen Terroristenzirkel beigetreten, aber ein notorischer Einzelgänger geblieben. Wohnte jahrelang in einem Moskauer Bordell. Vor einem halben Jahr meldeten Zeitungen, er sei aus sibirischer Verbannung geflohen. Niemand wisse, wo er sich derzeit aufhalte. Gibt es hier einen Gospodin Woronin-Sibirjak, Major Burke?«
»Ja, so heißt einer der russischen Reiter. Derjenige, der immer liest.«
»Dann sollten wir jetzt zu ihm gehen!«
»Entschuldigen Sie!« Im Eingang des Zeltes standen plötzlich ein Gentleman und eine Dame in Hut und langem Kleid. Der Gentleman hielt höflich seinen Zylinder in der Hand, die Dame lächelte Häuptling Red Shirt zu, der verblüfft zurücklächelte. In einem Indianerroman hätte er wahrscheinlich uff, uff gesagt.
»Man sagte mir, Mr. Cody«, fuhr der Gentleman fort, »dass ich Sie hier finden würde.«
»Ich habe jetzt keine Zeit, Mann«, gab der Angesprochene unfreundlich zurück. »Hey, Moment mal, das ist ja Lozen! Als Frau verkleidet!«
»Mr. Cody, Lozen ist eine Frau. 26 Ungewohnt ist nur ihre Kleidung. Zugegeben, sie hat als Mann hier gearbeitet, denn in den Staaten wird ihr Stamm, die Apatschen, verfolgt. Was aber geht uns das an? Sie ist durch und durch eine Frau. Jedenfalls hat mir meine Schwester, die für ihre standesgemäße Einkleidung gesorgt hat, nichts Gegenteiliges berichtet, und auch ich konnte mich, bei allem Respekt, bereits davon überzeugen. Sie gab mir nämlich gestern die Ehre, meine Frau zu werden. Auch wenn ich nicht ganz sicher bin, ob sie mehr mich oder mehr die Pferde meines Gestüts liebt. Gestatten Sie übrigens, dass ich mich vorstelle: Lord Widenham.«
Lozen lächelte ihn voller Schalk, aber gleichzeitig glücklich an. Ob sie die Worte ihres Mannes verstanden hatte? Ich hingegen war verblüfft. Lord Widenham galt als einer der besten Pferdezüchter Englands. Seine Pferde gewannen nach Belieben jedes Rennen, das irgendwo im Empire veranstaltet wurde. Zwar war die Ehe nicht standesgemäß, aber für das Gestüt des exzentrischen Lords sicherlich von großem Vorteil. Die Indianerin knickste etwas unbeholfen und lächelte in die Runde.
»Falls Sie mich übrigens noch immer über den Haufen schießen wollen, Mr. Cody, wie Sie sich auszudrücken beliebten, stehe ich Ihnen selbstredend gerne zur Verfügung. Schicken Sie mir Ihren Sekundanten. Habe die Ehre!« Der Lord verneigte sich und Lozen machte einen weiteren unbeholfenen Knicks. Es schien ihr diebisches Vergnügen zu bereiten. Dann hakte sie sich bei dem Lord unter und stöckelte auf den ungewohnten Absätzen ihrer Stiefel mit ihm davon.
Ha!, dachte ich. Hat der alte Grobian ausgerechnet Lord Widenham, und noch dazu vor mir als wenn auch heimlichem Zeugen, mit dem Tode bedroht! Das sah ihm ähnlich!
»Ich sagte, Watson, nur Detektive minderer Klasse mischen sich in Liebesaffären ein. Ich hatte natürlich die heimlichen Besuche des Lords hier im Zirkus bemerkt, mais honi soi qui mal y pense . Mögen die beiden glücklich werden! So! Nun wollen wir den Fall zu einem hoffentlich guten Ende bringen. Lestrade!« Holmes legte den Arm um Lestrades Schultern, um ihm leise etwas zu erklären, von dem ich, obwohl ich in der Nähe stand, nur das Wort hochgiftig verstand.
Lestrade nickte. »Poddle! Henderson!«
Die beiden uniformierten Polizisten standen vor ihrem Chef stramm. Der gab
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