Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)

Immerhin, es war eine schlaue Idee, das an sich friedfertige Tier mittels eines Schwirrholzes in Panik zu versetzen. Unter seinen stampfenden Hufen verschwanden sämtliche Spuren des Mordes. Als Woronin aufging, dass der Koch als Brannagans bester Freund womöglich ebenfalls etwas wusste, tötete er auch ihn, brach seinen Spind auf und durchwühlte seine persönlichen Habseligkeiten. Zu Woronins Verhängnis dürfte seine Gehbehinderung geworden sein. Ihm fehlte offenbar manchmal im entscheidenden Moment die zweite Hand, weil er diese brauchte, um sich auf seinen Stock zu stützen. So verlor er den Streifen von der Kopfhaut des Kochs. Ob er das Schwirrholz ebenfalls verloren oder einfach weggeworfen hat, mag der Prozess klären.«
    Ich hatte inzwischen den Pfeil an mich genommen und in das Rohr eingeführt. Weil ich ihn wegen der scharfen Spitze mit bloßen Händen nicht zum Einrasten bringen konnte, ging ich in die Knie, setzte das Rohr auf die hölzerne Einfassung der Arena und drückte es fest nach unten. Jetzt rastete der Pfeil, der dabei ganz im Rohr verschwand, mit einem hörbaren Klicken ein. Die Waffe war nun scharf, aber am Ende des Rohres hafteten Sägespäne und anderer Schmutz von der Oberfläche der Einfassung.
    Holmes schlug sich auf die Stirn. »Deshalb also war das vordere Ende des Schussapparates so schmutzig! Und ich Esel glaubte, er sei in den Stock eingebaut!«
    »Schauen Sie, Holmes!«, sagte ich. »In das Rohr ist etwas eingraviert: Von Herder Weapons Ltd.«
    »Diese Firma wird man sich als Lieferant für Mordwerkzeuge der besonders brisanten Art merken müssen. 28 Haben Sie uns noch etwas zu sagen, Mr. Woronin?«
    »Jebdonny w rot!«, 29 stieß der Russe hervor und spuckte verächtlich aus.
    Buffalo Bill mochte – anders als ein Afghanistan-Veteran wie ich – die Bedeutung dieser Worte nicht verstehen, den Ton, in dem sie gesprochen wurden, und die dazugehörige Geste verstand er sehr wohl. Im nächsten Augenblick bohrte er Woronin, der, von zwei Constables eingerahmt, vor uns stand, den Lauf seines Colts in die Nasenlöcher. »Dir geb' ich's gleich, verdammter Russki!«, knurrte er.
    Holmes legte begütigend die Hand auf die Waffe. »Nicht doch, Mr. Cody! Sie befinden sich in England!«
    Cody sah Holmes lange an. Dieser blickte fest zurück. Dann gab Cody endlich nach. »Nehmen Sie den Colt, Mr. Holmes. Sie dürfen ihn behalten, und meinen Gürtel auch. Für besondere Verdienste. Für einen Engländer sind Sie ein ganz passabler Bursche. Sie auch, Doktor.« Er löste die Schnalle seines Gürtels und übergab ihn Holmes. Was er dabei sagte, konnte ich nicht hören. Mein Freund sagte es mir später. Holmes nahm das Geschenk mit einer knappen Verneigung entgegen. Cody schüttelte mir die Hand, dann verließ er das Zelt.
    Lestrade begann seines Amtes zu walten. »Dann hätten wir ja soweit alles geklärt. Abführen! Der Henker wird sich freuen.«
    »Moment!«, rief Holmes. Mit spitzen Fingern zupfte er erst einen losen Faden aus dem Ärmel von Woronins Kittel, dann noch einen. Mit spöttischem Blick ließ Woronin die Prozedur über sich ergehen. »Ich denke, hier haben wir Fäden, die denen von Goliaths Verschlag entsprechen. Gospodin Woronin dürfte hängen geblieben sein, als er Brannagan über das Gatter stemmte. Ich hoffe zu Ihren Gunsten, Woronin, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits tot war.«
    Woronin quittierte dies mit einem weiteren höhnischen Blick. Auf Holmes' Kopfnicken hin zerrten die beiden Constables ihn hinaus.
    Fast konnte ich Buffalo Bill verstehen, denn es juckte mich plötzlich unbändig in den Fingern, dem Kerl seinen Pfeil in den Hintern zu schießen. Unsere Königin ermorden zu wollen! Ich konnte mich jedoch gerade noch beherrschen, legte stattdessen auf den mächtigen Zeltmast drei oder vier Schritte neben mir an und drückte ab. Zitternd blieb der Pfeil im Holz stecken ...
     
    Natürlich ließ Sherlock Holmes es sich nicht nehmen, am großen Tag, an welchem unsere Königin Buffalo Bill die Ehre ihrer Anwesenheit erwies, als zweiter Geiger im Cowboy-Orchester mitzuspielen. Michail, der Sohn von Zar Alexander III., saß ebenso in der Loge wie Vertreter königlicher und fürstlicher Häuser aus ganz Europa, deren Namen ich nicht nennen muss. Niemand der hohen Herrschaften ahnte, wie nah der Tod ihnen gekommen war. Sie waren alle von Sherlock Holmes gerettet worden; Sherlock Holmes wiederum verdankte sein Leben der frechen kleinen Kunstschützin Annie Oakley, die in der