Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
weiß eigentlich recht wenig über Sie«, sagte ich. »Wer waren Ihre Eltern? Ihre Geschwister? Wie wurden Sie zu dem, was Sie sind? Erzählen Sie doch mal.«
»Ja, Watson«, begann mein Freund. »Sie werden es kaum glauben, aber ich war einmal verlobt. Verlobt mit dem schönsten, dem sanftmütigsten Mädchen, das sich ein Mann nur wünschen kann. Nein, fragen Sie jetzt nicht nach ihrem Namen. Nennen wir sie Deborah. Sie war lebenslustig und fröhlich von Natur aus. Eigentlich das genaue Gegenteil von mir. Ich war ... und bin, wenn ich Ihren Berichten Glauben schenken darf, noch immer ... eigenbrötlerisch, mürrisch und humorlos. Schon als ich ein Junge war, fühlte ich immer diese Glasscheibe zwischen mir und meinen Träumen auf der einen Seite, der Ausgelassenheit auf der anderen. Vielleicht machte mich das eine Weile anziehend für Deborah, deren Herz ich mit meinem Geigenspiel zu verzaubern vermochte. Schon bald aber fielen Schatten über unsere Liebe. Schatten, die ich selbst verursachte. Ich hatte keinen Sinn für Zerstreuungen, für Tändeleien, Tanz und Ausgelassenheit. Das spürte mein Bruder, und er nutzte es skrupellos aus.«
»Sie meinen ...«, staunte ich. »Der dicke ... pardon, Mycroft hat Ihnen die Braut gestohlen? Ich glaube es nicht!«
»Das brauchen Sie auch nicht, Watson. Es war nicht Mycroft. Mycroft ist mein älterer Bruder. Ich meine meinen Zwillingsbruder.«
»Sie haben einen Zwillingsbruder? Wo? Wen?«
»Ja, ich hatte einen Zwillingsbruder. Moriarty Holmes. Der wohl beste Logiker, der je unter der Sonne wandelte. Obwohl wir eineiige Zwillinge waren, waren wir vom Charakter her so verschieden, wie Menschen nur sein können.«
»Moment mal! Moriarty? Doch nicht der Moriarty?«
»Doch, der nachmalige Professor Moriarty. Als ich eines Tages krank zu Bette lag, schlüpfte er in meine Kleider, ging zu Deborah und verging sich aufs Schändlichste an ihr. Mehr detektivischen Scharfsinn musste ich nie mehr im Leben aufwenden, um meine Unschuld zu beweisen und ... es gelang mir. Trotzdem wollte Deborah nichts mehr von mir wissen.«
»Ja, aber ...«
»Nichts aber! Mycroft ohrfeigte Moriarty, doch der lachte nur. Moriarty verließ das Elternhaus, schlug eine akademische Karriere ein und lehrte Mathematik. Später lief er uns zufällig in der Schweiz über den Weg. Wir vermieden es, einander zu begegnen, wie Sie verstehen werden. Da ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf und warf ihn die Reichenbachfälle hinunter.«
»Ich denke, er war der Napoleon des Verbrechens ?«
»Ach was! Das war niemand anderes als Oberst Moran. Ich habe mir erlaubt, Ihre Neigung zum Romancieren ein wenig zu nutzen und Sie absichtsvoll auf eine falsche Fährte zu lenken. Schließlich handelte es sich bei dem Tod meines Zwillingsbruders um glatten Mord.« Holmes beendete seinen Bericht. Fast schien es, als würde er einschlafen. Tatsächlich aber war er so wach, wie ein Mensch nur sein konnte. »Sie sollten besser aufpassen, Watson!«, rief er plötzlich aus.
Ich sah ihn verwirrt an. Er holte eine Blechdose aus der Tasche seines Morgenmantels, öffnete sie und hielt sie mir hin. »Ich war so frei, dies sicherzustellen und gegen getrocknete Ahornblätter auszutauschen. Sie sollten sich schämen, Watson!«
»Sie haben alles gewusst?«
»Watson ...« Mein Freund lachte. »Sie mögen, das bringt Ihr Beruf so mit sich, verteufelt geschickte, flinke Hände haben, und Sie können damit vom Tatort mitgehen lassen, was Sie wollen, aber ich werde es immer bemerken, denn ich habe verteufelt flinke Augen, und scharfe obendrein. Selbst wenn ich Ihren blitzschnellen Griff in die Tabaksdose mit dem indischen Kraut nicht bemerkt hätte, so hätte ich die Reste auf dem Revers Ihrer Jacke und dem Ärmel niemals übersehen können. Und natürlich habe ich vorhin Ihren lauernden Blick bemerkt. Selbst ein Blinder hätte wahrgenommen, wie gespannt Sie auf meine Geschichte waren. Aber Sie haben eines vergessen.«
»Was denn?«
»Sie haben zwar versucht, möglichst weit weg vom Kamin Platz zu nehmen, aber das indische Kraut wirkte auch auf Sie.«
»Ich habe nichts bemerkt!«
»Erinnern Sie sich, was ich fragte, bevor ich so tat, als schliefe ich ein?«
»Sie haben mich nichts gefragt.«
»Eben doch. Ich fragte Sie streng: ›Haben Sie auch genug indisches Kraut ins Kaminfeuer gegeben?‹ Und Sie haben mit dem Brustton der Überzeugung bejaht.«
»Habe ich nicht!«
»Sie kennen anscheinend eine der Nebenwirkungen des Mittels nicht:
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