Sherlock Holmes und Old Shatterhand (German Edition)
situierter Familie, ungeübt im Umgang mit der holden Weiblichkeit, offensichtlich Hochschullehrer und neigen dazu, gesellschaftliche Konventionen zu ignorieren. Sie befinden sich in der Obhut einer aufmerksamen Haushälterin und suchen im Moment eine Frau, die wahrscheinlich nicht auf derselben sozialen Stufe steht wie Sie. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, eine Frau, mit der Sie Streit haben.«
Dem Fremden klappte der Unterkiefer herunter. »Mein Gott, er hat es! Völlig korrekt! Kennen wir uns womöglich?«
Holmes antwortete sehr von oben herab. »Ich brauche niemanden persönlich zu kennen, um zu wissen, woher er kommt und was er tut. Ihre Herkunft aus besseren Kreisen ist außer an Ihrem tadellosen Englisch an den Umgangsformen abzulesen, denen Sie allerdings mit einer gewissen Nachlässigkeit obliegen. Sie zeigen mit dem Finger auf Menschen und Sie lüpfen die Kopfbedeckung so knapp, dass es bereits die Grenze zur Unhöflichkeit streift. Wie wenig Konventionen Ihnen am Herzen liegen, zeigen Ihre für die Tageszeit völlig unangemessene Kleidung und die etwas aus der Mode gekommenen Halbstiefel. Trotz ihres Alters perlt jedoch das Wasser ganz hervorragend daran ab und bildet keine Flecken. Eine nachlässigere Haushälterin als die Ihrige würde dieses Schuhwerk – ich möchte das Wort ausgetreten in diesem Zusammenhang nur ungern benutzen – sicherlich nicht so hingebungsvoll pflegen, wie sie es augenscheinlich tut.
Ihr Fakultätsschlips weist Sie als Angehöriger der Londoner Universität aus. Für einen Dozenten sind Sie nicht mehr jung genug, man hat Ihnen sicherlich längst den Professorentitel verliehen. Was veranlasst aber nun einen Mann von Ihrer Herkunft, Bildung und Position, bei diesem Wetter mit offenem Mantel und ohne Schirm in dieser Gegend herumzuirren? Die Kinder? Die Ehefrau? Sie tragen keinen Ring, sind also nicht verheiratet. Kinder oder Ehefrau dürften daher wohl kaum als Grund für Ihre Anwesenheit an diesem Ort in Frage kommen. Ein weiteres Argument übrigens dafür, dass Sie sich in der Obhut einer Haushälterin befinden. Oder suchen Sie einen nahen Angehörigen? Das wäre die nächstliegende Vermutung. Aus Ihrer Jackentasche lugt jedoch ein Päckchen in Geschenkpapier heraus. Sogar im trüben Schein der Londoner Gaslaternen ist ein Papier zu erkennen, das exklusiv für einen bekannten Londoner Juwelier hergestellt wird. Eine geplante Eheschließung? Nun, hätten Sie Ihrer Herzensdame 33 einen Heiratsantrag machen wollen, hätten sogar Sie sie, vermutlich doch in einer der Situation angemesseneren Kleidung, zu Hause aufgesucht und Ihr Anliegen in der erforderlichen Form vorgebracht. Da Sie aber mit Ihrem wertvollen Geschenk in der Tasche durch die Regennacht laufen, liegt der Fall für mich klar auf der Hand. Sie haben sich mit der Dame entzweit, sie ist auf und davon und nun suchen Sie sie verzweifelt. Nein, leugnen Sie nicht, Ihr schweifender, prüfender Blick auf die Passantinnen spricht Bände!
Nun würde eine Dame, die derselben sozialen Schicht angehört wie Sie, sicherlich nicht ausgerechnet hier, unter Blumenmädchen und Ähnlichem, zu finden sein. Trotzdem wollen Sie sie ganz offensichtlich wiederfinden und ihr Herz zurückerobern. Aber würde das ein Gentleman in aller Öffentlichkeit tun, wenn er sich ernsthafte Sorgen um seinen Ruf machen würde? Das kann nur jemand tun, der wenig Wert auf die Meinung seiner Mitmenschen legt.«
»Und warum glauben Sie, dass ich ungeübt im Umgang mit den Damen sei?« Der Ton des Fremden wurde scharf.
»Ganz einfach. Würden Sie die Frauen kennen, wüssten Sie, wie sehr Sie mit Ihrem Aufzug in diesem Augenblick in dieser Situation bei Ihrer Angebeteten an Ansehen verlieren.«
Er wandte sich mir zu. »Doktor! Was hätte Ihre selige Frau Gemahlin seinerzeit in Ihrer Brautzeit getan, wären Sie in diesem Aufzug vor ihr erschienen?«
Mir war die Frage unangenehm. »Äh, ich fürchte, sie hätte unter den gegebenen Umständen gar nicht mehr meine Gattin werden wollen. Zumal Maman, also meine Schwiegermutter, sehr dezidierte Vorstellungen von Sitte, Anstand und Konventionen hatte.«
»Sie haben verdammt recht«, lenkte der Mann nun ein. »Ich habe mich völlig der Lächerlichkeit preisgegeben. Ein Mann mit einem Funken Ehre im Leib sollte niemals ein Weib an sich heranlassen. Als wenn meine Frau Mama und Mrs. Pearce, meine Haushälterin, eine in der Tat treu sorgende Person, nicht schon ausreichend Weiblichkeit in mein Leben
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