Sherry Thomas
auf das man sich verlassen konnte. Sicherheit war ihr
wichtig. Sie wusste gern genau, was die Zukunft bereithielt. Eine Hochzeit mit
Carrington hatte ihr genau das versprochen: Ganz gleich, was passieren mochte,
danach wäre sie zumindest für den Rest ihres Lebens eine Duchess gewesen, und
niemand hätte es je wieder gewagt, sie oder ihre Mutter zu schneiden.
Seit Carringtons Tod galt sie nun
aber wieder bloß als die Tochter eines Geldsacks aus der falschen Gesellschaftsschicht.
Wie viel Mühe ihre Mutter sich auch gab, Gigi war einfach keine atemberaubende
Schönheit, nach der man sich umdrehte. Beim Tanzen war sie dem einen oder
anderen Herrn schon auf die Zehen getreten. Und was besonders vulgär war: Sie
interessierte sich für Handel und Geldgeschäfte.
Über Gigis Kopf hingen dichte Wolken
wie schmutzige Wattebüschel. Bald würde es anfangen zu schneien. Sie wäre
jetzt wirklich besser zurückgegangen. Vom Haus trennten sie noch volle drei
Meilen. Aber sie wollte nicht heim. Es war schon deprimierend genug, sich
allein auszumalen, was für ein Leben sie hätte führen können. Aber in Gegenwart
ihrer Mutter war das noch zehn Mal schlimmer.
Mrs. Rowlands Gemütszustand
schwankte zwischen Schock, Verzweiflung und wütender Entschlossenheit hin und
her. Sie würden es noch einmal schaffen. Das flüsterte sie Gigi immer wieder
zu. Wenn Victoria sich gerade besonders aufregte, umarmte sie sie dabei noch.
Dann wieder verlor die Mutter jede Hoffnung, weil dieser Erfolg einfach nicht
wiederholbar schien – Carrington war ein geradezu einmaliger Glücksfall aus
Vergnügungs- und Verschwendungssucht, Insolvenz und Verzweiflung gewesen.
Ein Bach trennte Briarmeadow von
Twelve Pillars. Hier gab es keine Zäune, das Flüsschen selbst bildete gewohnheitsrechtlich
die Grenze zwischen den beiden Besitzungen. Gigi stand an der Böschung und
warf Steine ins Wasser. Im Sommer war dies ein hübsches Fleckchen mit
tiefhängenden grünen Trauerweiden, deren Äste sich im Wind wiegten. Jetzt sahen
die blattlosen Weiden eher aus wie nackte alte Jungfern mit knochigen, nach
vorn fallenden Schultern.
Auf der anderen Seite des Bachs
erhob sich ein kleiner Hügel, auf dem plötzlich ein Reiter ohne Kopfbedeckung
erschien. Das erstaunte Gigi. Außer ihr kam nie jemand hierher. Der Mann in der
dunkelroten Reitjacke und aufgeplusterten Reithosen, die in langen schwarzen
Stiefeln steckten, ritt die Anhöhe hinab. Aus Angst, das Pferd könnte sie
umrennen, wich Gigi zurück.
Am Fuße des Hügels, einige Meter von
ihr entfernt, ließ der Reiter das Tier elegant über den breiten Bach springen.
Dann zog er die Zügel an, brachte das Pferd zum Halten und musterte Gigi. Also
hatte er sie schon lange erspäht.
»Sie befinden sich unerlaubt auf
meinem Grund und Boden! «, rief sie.
Der Fremde zügelte das Pferd erst,
als er Gigi wirklich erkennen konnte, ein paar Meter von ihr entfernt. Damals
hatte sie ihn zum ersten Mal richtig gesehen.
Er sah gut aus – nicht so umwerfend
wie Carrington, der ein wiedergeborener Lord Byron gewesen war. Das Gesicht des
Unbekannten war schärfer geschnitten, edler und dabei auch männlicher. Dabei
besaß er beeindruckende, leuchtend grüne Augen. Sie verrieten seine Intelligenz,
aber wenig über seine Gefühle oder Gedanken.
Gigi konnte den Blick nicht
abwenden. Der Mann hatte etwas, das sie magisch anzog: Seine ganze Haltung
ließ auf ein Selbstvertrauen schließen, das nichts mit Carringtons adeliger
Arroganz oder ihrer eigenen trotzigen Halsstarrigkeit gemein hatte. Innere
Stärke verband sich bei ihm mit Finesse.
»Sie befinden sich unerlaubt auf
meinem Grund und Boden”, wiederholte sie, weil ihr nichts anderes einfallen
wollte.
»Tatsächlich?«, fragte er. »Und
wer sind Sie?«
Er sprach mit einem leichten Akzent,
der weder französisch, deutsch noch italienisch klang. Sie konnte ihn nicht
zuordnen. Ein Ausländer?
»Miss Rowland. Und Sie?«
»Mr. Saybrook.«
War das etwa ... nein, unmöglich!
Andererseits, wer sollte er sonst schon sein? »Sind Sie der neue Marquess of
Tremaine?«
Carrington war ohne einen Erben
gestorben. Sein Onkel, der nächste in der Erbfolge, hatte den Titel des Dukes
geerbt, sein ältester Sohn durfte sich damit Marquess of Tremaine nennen.
Der Reiter
lächelte leicht. »Ja, das bin ich nun wohl.«
Das also sollte Theodora von
Schweppenburgs heimliche Liebe sein? Gigi hatte sich unter Mr. Saybrook bisher
eher jemanden vorgestellt, der genauso rückgratlos und
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