Shevchenko, A.K.
Stück
Zeitung, die Telefonnummer, die sie mit blauem Kuli neben die Schlagzeile Gute Reise
nach Europa gekritzelt hat. Es ist so einfach, sich die Doppelsequenz
acht-drei-zwei zu merken. »Sie hat mir nicht mal ihren Namen genannt«, hat er
zu Karpow gesagt. Das brauchte sie auch gar nicht. Er kannte ihn sowieso
schon.
Kate. Sie heißt Kate. So steht es in Andrijs Handschrift
auf der Fotografie, die Taras auf seinem Schreibtisch fand und mitnahm, als er
in Cambridge nach den Dokumenten suchte: Kate, März 2001. Taras zieht
das Foto unter den sauber gefalteten Geschirrtüchern hervor. Es ist eine
Polaroidaufnahme, und die verblassenden Farben sind an den Rändern grünlich
getönt, aber die karierte Wachstischdecke leuchtet immer noch rot und weiß,
und die Gesichter werden von der träge brennenden Kerze in der Sturmlampe voll
beleuchtet.
Zwei Menschen blicken lächelnd in die Kamera. Zwei
Menschen, die seine Vergangenheit und Gegenwart geformt und ihm die Zukunft
geraubt haben. Andrij und ein glückliches grauäugiges Mädchen mit
Pferdeschwanz. Andrijs Hand berührt nur ihre Finger, aber dies besagt
eindeutig: »Sie ist mein.«
Er hat sie in Kiew, im Lawra-Museum, sofort erkannt,
obwohl sie nicht mehr lächelte.
»Das Testament ist durch eine britische Rechtsanwältin in
die Ukraine gelangt«, hat Karpow gesagt. Nur noch ein Schritt, dann wäre Taras
selbst drauf gekommen. Er hätte sich folgende Frage stellen müssen: Was tut ein
Mädchen, dessen Fotografie in Andrijs Zimmer gestanden hat, in Lawra, in Kiew -
drei Tage nach Andrijs Tod? Aber er hatte sich so sehr auf seine nächste
Aufgabe konzentriert, nämlich sein Treffen mit Oxana, dass er die Situation
nicht gründlich genug durchdachte. Perfekte Fallstudie, die Surikows These
unterstützte: »Zufälle zu ignorieren ist der erste Schritt auf dem Weg zum
Misserfolg.«
Er hätte Kates Ellbogen, als sie im Museum stolperte, noch
länger festhalten sollen. Er hätte lächeln, sie nach dem Weg fragen oder
einfach mit ihr gemeinsam das Museum verlassen sollen, und alles wäre gut
gewesen. Wie konnte er so irrational reagieren, nur einen Schritt »vom Rest
seines Lebens« entfernt? »Tanz mit mir, Schicksal!« O ja, das
Schicksal tanzte mit ihm. Es hatte ihn in diese dunkle Küche geführt, seinen
Willen ins Gegenteil verzerrt und lachte jetzt höhnisch über seine verspielten
Chancen. Warum hat er nicht erraten, was diese Verpflichtung war, von der sie
sprach? Warum hat er sie nicht am Flughafen aufgehalten?
»Geben Sie mir einen Tag,
Genosse Oberst«, hatte er Karpow gebeten. »Geben Sie mir einen Tag, um alles
in Ordnung zu bringen.«
Eine Stunde später preist Taras den optimierten
Ticketbuchungsservice, er preist die neue Aeroflot-Kampagne Anruf
genügt! und das Zaudern der skeptischen Passagiere - denn dadurch
sind für den Flug am nächsten Tag noch Plätze frei; er preist die Britische
Botschaft, die ihm ein Mehrfachvisum für einen Monat ausgestellt hat; und er
preist den Umstand, dass er sich den eleganten neuen Aktenkoffer gekauft hat.
Aeroflot biete einen neuen Service an, hat ihm das Mädchen am anderen Ende der
Leitung gesagt: »Wir können auch gleich ein Hotelzimmer für Sie buchen.«
»Danke. Dann werde ich es mal mit Ihrem neuen Service
versuchen«, erwidert Taras. »Ich würde gern in einem ganz bestimmten Hotel
wohnen.«
Minutenlang klickt es in der Leitung, dann meldet sich das
Mädchen wieder: »Die gewünschte Suite ist verfügbar, aber es ist eine sehr
teure Option. Vielleicht können wir Ihnen etwas Preiswerteres anbieten?«
»Ich nehme die Suite«, sagt Taras. »Vermutlich werde ich
nur ein bis zwei Tage bleiben, aber bitte buchen Sie sie für drei Nächte, für
alle Fälle.«
Er packt sorgfältig seinen Lederaktenkoffer - ein paar
Hemden, seinen alten Gürtel. Er öffnet eine andere Küchenschublade, in der eine
Zigarettendose liegt, und entnimmt der Dose ein Bündel Dollarscheine. Schon
lange träumt er davon, einmal in diesem Hotel zu übernachten. Und nicht nur,
weil die Fenster auf die Themse gehen. Er hat in so vielen Archiv-Akten
darüber gelesen - offenbar war es schon immer der Treffpunkt
für Spione. Taras hat die Suite im fünften Stock gebucht - die Zimmer der
Russischen Botschaft während des Zweiten Weltkriegs. Nur um dem Touch von Luxus
einen historischen Hauch hinzuzufügen. Ja, es ist teuer, sehr teuer, aber was
hat er zu verlieren ? Er hat ja schon alles verloren. Nun ja, fast alles.
Wenigstens ist er noch
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