Shevchenko, A.K.
des 19. Jahrhunderts an Grygorij
Polubotoks Großvater weitergegeben wurde, als er vor seiner Emigration nach
Lateinamerika in Frankreich Station machte.
»Warum wurde ausgerechnet ein französischer Graf dazu
ausersehen, das Testament aufzubewahren?«, hatte Kate sich gefragt und ein
paar Zeilen an den Service historique geschickt.
Im Trubel der letzten Wochen hatte sie ihre Anfrage völlig vergessen, aber jemand
anders hat sie nicht vergessen. Dieser Jemand hat ihre Anfrage sogar sehr
ernst genommen. Irgendein akribischer Archivar mit beginnender Glatze, kurz vor
der Pensionierung stehend, hat ihrer Geschichte einen ganzen Tag seines Lebens
geopfert - die Dokumente ausgegraben und einen Brief verfasst:
Danke für Ihre Anfrage. Graf Orly
war eine bemerkenswerte Gestalt der französischen Geschichte. Während des
Dreißigjährigen Kriegs war er Befehlshaber der deutschen Kavallerie. Wir legen
zwei Kopien der Artikel bei, die seine militärischen Großtaten schildern. Graf
Orly hat häufig als politischer Agent des französischen Königs agiert und ist
in dieser Eigenschaft oftmals durch Europa gereist, um Unterstützung für den
französischen Monarchen zu gewinnen. Da seine Berichte oft mit
unterschiedlichen Namen unterzeichnet wurden, zum Beispiel Bartel, Gare, Lamont
etc., ist es ein Ding der Unmöglichkeit, seine gesamte Korrespondenz aufzuspüren.
Sie haben angefragt, ob wir irgendwelche Dokumente besitzen, die die Verbindung
zwischen Graf Orly und Pawlo Polubotok belegen. Bedauerlicherweise führte
selbst eine ausgedehnte Suche in unseren Dokumenten zu keinem positiven
Ergebnis. Wir befinden uns jedoch im Besitz eines Briefs, datiert vom 18. Juli
1748, den Graf Orly an Jakiw Polubotok richtete. In Anbetracht der Daten könnte
es sich um einen Sohn Pawlo Polubotoks handeln oder um einen anderen Verwandten
aus jener Generation. Falls Ihnen diese Information für Ihre Recherche von
Nutzen ist, können Sie uns gerne jederzeit besuchen und Einsicht in den Brief
und andere Dokumente nehmen. Unser Archiv umfasst den Zeitraum von 1630 bis
2001. Wir besitzen Manuskripte, private Papiere, Landkarten und Fotografien.
Unsere Öffnungszeiten sind Montag bis Samstag von 10.00 Uhr bis 11.30 Uhr.
Sonntags haben wir geschlossen. Bitte bringen Sie einen Ausweis mit, wenn Sie
die Bibliothek besuchen.
»Danke, Monsieur ...« Kate schaut unten auf den Namen.
»Danke, Monsieur Brisson. Irgendwann werde ich Ihr Archiv einmal besuchen.
Vielleicht, wenn ich in Pension gehe.« Sie schiebt den Brief in das braune
Kuvert zurück und wirft das Kuvert in den Papierkorb. Diese Geschichte ist
abgeschlossen; sie will durch nichts mehr daran erinnert werden.
Sie ist völlig darauf konzentriert, die Briefbögen in
einem exakten Stapel aufzuschichten, als das Telefon klingelt. Es ist Amy, die
Empfangsdame. »Kate? Marina ist auf dem Weg zu Ihnen. Sie hat gesagt, es gebe
etwas Wichtiges zu besprechen.«
Kate legt
den Hörer auf und fährt fort, die Papierbögen auszurichten, bis ihr plötzlich
klar wird, was sie soeben gehört hat. Marina ist da?
Kate hat sich immer gefragt, wie es wäre, von einer
Flutwelle erfasst zu werden - jetzt weiß sie es: Die Panik beginnt bei den
Zehen, erreicht die Knie, steigt rasch bis zu den Schultern und verschlingt
einen am Ende ganz. Nicht ausgerechnet Marina! Kate überlegt, ob sie sich im
Büro verbarrikadieren soll; ob sie zwischen den Schreibtisch und die Wand passt
- diese Ideen wirken gleich weniger verrückt, wenn sie sie mit der Vorstellung
vergleicht, jetzt mit Marina sprechen zu müssen. Aber zu spät. Marina füllt
den ganzen Raum aus. Erst erscheint ihr mütterlich wogender Busen, dann folgen
ihre wild gestikulierenden Hände (als versuchte sie einen Schwimmrekord zu
brechen), dann ertönt das Klirren zahlloser Armreife und schließlich das Gurren
einer zufriedenen Taube, unterbrochen nur durch ein gelegentliches
Luftschnappen. Offenbar ist sie die Treppen heraufgerannt, was für jemanden mit
ihrer mächtigen Statur kein Kinderspiel ist. Aber so, wie Kate Marina kennt,
wäre es für sie noch viel schlimmer gewesen, noch eine Minute länger auf den
Lift zu warten. Sie braucht Action, und zwar sofort.
»Katerynko!« Sie baut sich vor Kate auf, die sich hinter
ihren Schreibtischsessel flüchtet. »Ich weiß, ich weiß - ich hätte dir das
Kleid per Kurier senden können, hätte bis zu unserer kleinen Spritztour morgen
warten können, aber da sind ja dann andere Mädels dabei, und
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