Shevchenko, A.K.
zu Baba Gapas
Hütte.
Taras geht hastig an dem Jungen vorbei, ohne ein weiteres
Wort zu sagen. Er öffnet seine eigene Wohnungstür, geht ins Bad und wäscht sich
lange die Hände. Dann beginnt er seine abendliche Teezeremonie: bestreicht das
Brot mit Butter, belegt es gleichmäßig mit Scheiben. Er beschließt, den Tee
heute etwas schwächer zu machen, und fügt, nach einigem Zögern, einen weiteren
Löffel Zucker hinzu. Dann steckt er den Schlüssel in die Tasche, verlässt die
Wohnung und balanciert ein Tablett mit dem belegten Brot und der Teetasse vor
sich her, bemüht, nichts zu verschütten, während er vorsichtig, Schritt für
Schritt, durchs dunkle Treppenhaus hinuntersteigt. Als er ein Stockwerk tiefer
angelangt ist, stellt er Teller und Tasse vorsichtig auf dem zementierten Boden
des Treppenabsatzes ab. Er zückt ein sauber gefaltetes Taschentuch, wischt
Wasjas schmutzige Wangen damit ab und faltet es wieder zusammen. Dann hockt er
sich auf eine Treppenstufe und sieht Wasja schweigend beim Essen zu. Der Junge
hat aufgehört zu wimmern; er konzentriert sich jetzt ganz darauf, das Brot so
schnell wie möglich hinunterzuschlingen, für den Fall, dass seine Mutter die
Tür aufmacht. Taras beugt sich vor und steckt Wasja einen Geldschein in eine
seiner schmutzigen, löchrigen Socken. »Versteck das gut, Wasja. Für Essen,
nicht für Spielzeug - du weißt ja, Spielzeug machen sie nur kaputt oder
verkaufen es.«
Als Wasja aufblickt, sieht Taras, dass sein linkes Auge
geschwollen ist und der linke Winkel der Oberlippe zuckt. Er fragt sich, ob es
ein nervöser Tick ist, den das Kind entwickelt hat, oder eine Folge des Hiebs.
Er steht entschlossen auf.
Taras drückt lange auf die Klingel. Das Gebrüll verstummt.
Als endlich die Tür aufgeht, stößt Wasja die betrunkene Mutter beiseite und
läuft in die Küche, vorbei an der Flaschensammlung im schäbigen Flur.
Wasjas Vater sitzt mit dem Rücken zu Taras am Küchentisch
und starrt aus dem Fenster. Er stützt sich mit den Ellbogen auf den Tisch, sein
Kinn ruht auf den Fingerknöcheln. Ein Inbild der Häuslichkeit. Sanft nimmt
Taras dem Mann eine Hand vom Gesicht, verdreht ihm in einer blitzschnellen
Bewegung das Handgelenk und starrt ihm, der verblüfft zurückstarrt, direkt in
die Augen. »Wenn du Wasja noch einmal anrührst, brech ich dir den Arm«, sagt
Taras nur. Er weiß, dass er beim nächsten Mal nicht mehr da sein wird; doch der
körperliche Schmerz, verknüpft mit der Drohung, wird direkt ins
Unterbewusstsein dringen; und die Erinnerung daran wird das beste
Abschreckungsmittel gegen weitere Misshandlungen sein. Wenigstens eine
Zeitlang. Wasja lugt aus seinem neuesten Versteck hervor, dem Klo: Seine Augen
sind trocken, der Mund zuckt noch mehr, denn Wasja verkneift sich ein Lächeln
- in seinem ganzen Leben hat ihn noch niemand verteidigt. Taras geht hinaus,
ohne auf das Schreien und Fluchen zu achten, das jetzt hinter ihm losbricht,
und ohne die Wohnungstür zuzuziehen. Er ist sich sicher, dass sie nicht die Polizei
rufen werden: Die Polizei weiß über den Alkoholmissbrauch des Ehepaars Bescheid
und wird nicht reagieren. Taras geht in seine Wohnung zurück, wäscht sich
erneut die Hände und macht sich jetzt auch ein Sandwich.
Er wischt sich die Mundwinkel ab, faltet die Serviette und
greift auf den Kühlschrank. Dort, in einem grünen Plastikordner, befinden sich
die Seiten, die er sich aus Fall N 1247 kopiert
hat. In der Gegenwart bleibt ihm nicht mehr viel zu tun, also kann er ebenso
gut in die Vergangenheit entfliehen.
An Feldmarschall Alexej Rasumowski, St. Petersburg, Juni 1748
Von Agent Christoforo Sachar: Was die dewiza Sofia
Polubotok betrifft, die durch Europa reist, beehren wir uns, Folgendes
mitzuteilen ...
24
Palast der Zarin Elisabeth, St. Petersburg, Juni 1748
Macht ist wichtiger als Reichtum. Das weiß er jetzt. Er
sitzt auf dem Fenstersims, schaut hinunter in den Hof, den seine Frau gerade
im Jagdkostüm durchquert, und denkt an die zurückliegenden Ereignisse dieses
Tages.
Es war der Morgen nach dem Großen Aprilball. Sie hatten
spät gefrühstückt und waren gerade erst fertig geworden. Der abgestandene
Geruch von niedergebrannten Kerzen und Haarpuder hing noch in der Luft.
Elisabeth plauderte über den Kaftan, den Graf Naryschkin auf dem Ball getragen
hatte. Der Rücken war mit einem baumartigen Motiv bestickt: in der Mitte das
breite goldene Band des Stamms, von dem die silbernen Linien der Äste
abzweigten
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