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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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am Leben.
     
    KATE
     
    25
     
    London, Montag, 9. April
2001, 10.30 Uhr
     
    Sie könnte ihm Geld dafür geben, dass er aufhört, aber er
wird nicht aufhören, da ist sie sich sicher. Er ist eins mit seinem Saxophon;
er und sein Instrument verkörpern unisono diese traurige Melodie.
    Seit drei Monaten, vielleicht auch vier, steht er nun an
dieser Ecke der Unterführung. Sie hat ihn so oft spielen gehört, ist aber nie
richtig stehen geblieben, hat ihm nie richtig zugehört, diesem verrückten
graubärtigen Musiker, der einzig für sein Klagelied zu leben scheint.
    Als Kate sich seufzend vorbeugt, um noch eine Münze in den
offenen Saxophonkasten zu legen, wird sie von einem dicken, rotgesichtigen
Mann angerempelt, der eine riesige Kiste schleppt. »Hey, was soll das, Kleine?
Was is los? Steh hier nich rum wie blöd! Das is 'ne Unterführung, verdammt noch
mal, kein Scheiß-Kulturcenter!«
     
    Willkommen zu Hause. Das Büro hat sie wieder, und Amys Gezwitscher
und das impressionistische Gemälde. »Oh, Kate!« Amy schaut vom Bildschirm auf,
als Kate durch die Rezeption geht. »Miss Fletcher hat Sie schon gesucht.« Kate
bringt ein Lächeln zustande. Es geht leichter, als sie dachte. Amys
eigenwilliges Make-up (eine Augenmaske wie ein Waschbär und lila schimmernder
Lidschatten) hilft sicherlich dabei. Natürlich hat Miss Fletcher nach mir
gesucht; denkt sie, als sie den Lift betritt. Ich habe eine Menge zu erklären.
    Sie hat das ganze Wochenende damit verbracht, ihre
»verpassten Termine« abzuhaken. Zuerst hat sie Philip angerufen, der sich - der
Musik und dem Hintergrundgelächter nach - in irgendeinem Club aufhielt und wohl
kurz vor einer schweren Alkoholvergiftung stand. (»Hier ist es vier Uhr
morgens, Kate!«, grölte er ins Telefon.) Als Nächstes rief sie Fiona an, die
sich nun schon den dritten Tag in der spanischen Sonne räkelte und zum Glück
eine andere, verlässliche Katzensitterin gefunden hatte.
Dann murmelte Kate eine Nachricht auf Marinas Anrufbeantworter, wegen der
Kleideranprobe, erleichtert, dass Marina nicht da war und ihr Anrufbeantworter
keine Zeit für lange Erklärungen ließ.
    Jetzt steht sie unschlüssig vor Carols Tür, doch anstatt
zu klopfen, geht sie nach links durch den Korridor zu ihrem eigenen Büro. Sie
ist innerlich noch nicht bereit, Carol gegenüberzutreten. Sie hat ihre
Gesichtsmuskeln noch nicht in der Gewalt. Kate schiebt sich zwischen Stuhl und
Schreibtisch, gewöhnt sich an die vertrauten Geräusche und den Anblick des Sandwich-Shops
gegenüber. Mission erfüllt. Wie soll sie jetzt weiterleben? Als sie aus dem
Fenster blickt, kommt es ihr vor, als sähe sie das alles zum ersten Mal: das
rot-grüne Schild Tonino im Haus gegenüber; Toninos
deutsche Freundin, die wie üblich mit mürrischer Miene Kaffee serviert; Jamie,
den Kanzleipraktikanten, der ansteht, um Sandwiches zu kaufen - der Wind lässt
ihn zusammenschauern, seine Igelborsten stehen ihm trotzig vom Kopf ab
(vermutlich hat er wieder mal den Zettel mit den Bestellungen vergessen und
wird die falschen Sachen kaufen). Kates Blick schweift zu dem Baum vor ihrem
Fenster. Die Äste sind kahl und dunkel, doch das Aprillaub sprießt
zuversichtlich, ist schon fast ganz heraus; nur das helle Grün verrät, wie jung
die Blättchen sind.
    Kate entdeckt, wie faszinierend schlichte
Alltagshandlungen sein können. Sie schiebt die Kaffeetasse in die Mitte des
Schreibtischs und beobachtet, wie ein brauner Fleck auf dem Untersetzer die
Form verändert; sie baut einen Hindernisparcours, um zu vermeiden, dass ihr
Stift vom Tisch rollt; sie stapelt die Kuverts aus dem Posteingangskorb
ordentlich übereinander. Ein dickes braunes Päckchen passt nicht drauf, deshalb
legt sie es beiseite. Ihr Blick fällt auf die fetten Lettern in der linken
Ecke: Service historique de VArmee de Terre. Château de ...
    Französisches Militärarchiv ... Warum? Sie versucht den Umschlag
aufzureißen, hat aber nicht genug Kraft und greift nach der Schere. Der
Umschlag enthält ein getipptes Schreiben auf einem Blatt mit Briefkopf, mehrere
Fotokopien und einen Zeitungsausschnitt.
    Ach, jetzt erinnert sie sich. Sie hat einen Brief an das
Archiv in Frankreich geschickt, mehr aus Neugier als aus Notwendigkeit. Bei der
Lektüre von Andrijs Notizen war ihr nämlich etwas aufgefallen. Laut der
Familienüberlieferung der Polubotoks war das Testament nämlich in Frankreich
vom französischen Grafen Orly und dessen Nachkommen aufbewahrt worden, bevor es
dann Ende

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