Shevchenko, A.K.
der Kerl war zu sachkundig, zu schlau, zu diplomatisch - mit
anderen Worten, zu gefährlich. »Der Premierminister hat durchaus Verständnis
dafür, dass Ihr Land den Wunsch hat, jetzt Anspruch auf das Geld zu erheben, zu
diesem historischen Zeitpunkt - der in der Entwicklung Ihres Staats leider
nicht der günstigste ist«, fuhr der Privatsekretär fort. »Vorausgesetzt, dass
alle Dokumente vorliegen und jenes Erbe tatsächlich existiert« - wieder mühte
sich der Dolmetscher mit der Nuance ab -, »würde die Regierung Ihrer Majestät
alles tun, um Ihnen bei der Erlangung der Gelder behilflich zu sein. Allerdings
ist es meine Pflicht, eine Warnung auszusprechen, Herr Präsident. Die
Anforderung eines Erbes könnte zu einem langwierigen, kostspieligen Prozess
führen, der vielleicht Jahre dauern und Millionen an Gerichtskosten
verschlingen würde. Angesichts der Summen, um die es hier geht, nehme ich
einmal an, dass diese Erbschaft zu einem solchen Szenario passen könnte. Soviel
ich weiß, finden nächstes Jahr in der Ukraine Präsidentschaftswahlen statt, und
in dieser Situation scheint es möglicherweise nicht unbedingt gerechtfertigt,
Gelder für Gerichtskosten in Großbritannien auszugeben.« Mit einem Nicken
erkannte der Präsident die Bedenken des Premierministers an. Er gab jedoch
keinerlei Kommentar dazu ab. »Auch möchte ich betonen, Herr Präsident, dass wir
Ihr Land als wichtigen aufstrebenden europäischen Staat betrachten und mit
Freuden bereit wären, die Bewerbung Ihres Landes bei diversen internationalen
Institutionen zu unterstützten.« Durch erneutes Nicken drückte der Präsident
stumm seine Dankbarkeit aus. Er wusste genau, was der Privatsekretär meinte,
obwohl er nichts Konkretes sagte.
Der Privatsekretär erhob sich. »Nun, ich freue mich, dass
wir zu einer Verständigung gelangt sind. Dann also bis morgen, Herr Präsident.«
Als er ging, eilte der Protokollchef hinter ihm her und
sah auf die Uhr. Das Treffen hatte exakt sieben Minuten gedauert. Also
wirklich, wie machen die das bloß?, dachte der
Präsident ein weiteres Mal.
Als er schließlich allein ist, steht der Präsident vor
einer schwierigen Entscheidung.
Wenn er morgen also darauf verzichtet, Anspruch auf das
Erbe zu erheben, kann er sich das lange Zeit zunutze machen. Er wird der
Hoffnung Ausdruck geben, dass seine britischen Freunde die europäischen
Ambitionen seines Landes unterstützen. Er wird nicht sagen: »als
Gegenleistung«, das ist gar nicht nötig - sie werden genau verstehen, was er
meint. Wenn dann sein Land, mit Unterstützung seiner britischen Freunde, der
NATO beitreten würde, könnte er sich in den Wahlkampfreden darauf
konzentrieren, »der Nation die Sicherung einer friedlichen Zukunft« zu
versprechen. Und dann würden die Rentner, die sich noch an den Zweiten Weltkrieg
erinnern, nicht mehr so laut ihre Rechte einfordern; sie würden sich mit der
Armut abfinden, um wenigstens in Frieden leben zu können. Und die Masse der
Rentner besitzt ziemlich viel Einfluss; er kann es sich nicht leisten, sie zu
unterschätzen. Sie sind bei jeder Wahl das Zünglein an der Waage. Nicht die
enttäuschte Generation der Vierzigjährigen, die mit den sozialistischen Ideen
aufwuchsen und immer noch nichts mit dem Geschwätz von der freien
Markwirtschaft anfangen können. Und auch nicht die verwestlichten Jugendlichen,
die sich für alles interessieren, nur nicht für Politik.
Andererseits benötigt sein Land dieses Geld ganz dringend.
Sein Land braucht die Hoffnung auf ein Lotterielos, auf einen unerwarteten
Gewinn, um aus Inflation und Armut herauszukommen. Ja, vielleicht würde der
Gerichtsprozess tatsächlich Jahre dauern, aber welch enorme Publicity bekäme
diese Geschichte! Man würde ihn als Retter der Nation bezeichnen. Natürlich,
wenn das Geld rasch in den Etat gelangte, würde er seine Zeit damit verbringen
müssen, Rangeleien zwischen Sozialfürsorge und Atomkraftwerken, Armee und
Bergleuten zu schlichten. Jeder würde sofort auf seinem Anteil bestehen. Diese
Situation könnte ihm mehr Feinde als Freunde bescheren.
Er muss sich also entscheiden - entweder eine Geldspritze
und Publicity vor den Wahlen oder Finanzprobleme und die Unterstützung ihrer
britischen Freunde.
Der Präsident blickt aus dem Fenster. Eine Gruppe von
Kindern reitet im Schritt durch den Hyde Park. Plötzlich gleitet ein kleiner
Junge vom Sattel, kann sich aber gerade noch oben halten. Der Präsident kann es
sich nicht leisten, aus dem
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