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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Nachbarin ihr die
Tarotkarten legte: Die Frau hatte eine Karte herausgezogen, einen besorgten
Blick darauf geworfen, neu gemischt und erneut die gleiche Karte gezogen. »Ein
Fluch über deiner Familie«, hatte sie gemurmelt, ohne Oxana anzusehen.
     
    Wieder diese Stimme. Die sie durch Rauch und Licht und
Lärm hindurch beherrscht.
    »Haben Sie jemals Briefe aus London empfangen?«
    »Nein.«
    »Besitzen Sie Dokumente, die diesen Fall betreffen?«
    »Nein.«
    Die plötzlich eintretende Stille ist noch ohrenbetäubender
als die Stimme des Vernehmungsbeamten. Der Fisch kritzelt ein paar Notizen auf
ein Blatt Papier. Sie würde ihn gern fragen, wann sie nach Hause gehen darf,
aber der Rauch füllt ihre Lungen, und ihre Augen brennen. Sie hat Angst, dass
sie, wenn sie das nächste Mal den Mund aufmacht, einen Schrei ausstoßen und in
Tränen ausbrechen wird. Ihr reicht es ...
     
    ... und Taras auch. Er faltet die linierten Blätter
zusammen, legt sie in seine braune Aktentasche zurück.
    Danke, Oxana, denkt er. Es war dein Starauftritt an jenem
Morgen, der Karpow überzeugt hat. Ich gehe nach London und nehme dich mit - und
natürlich noch ein paar andere Akten. Ich kann es kaum erwarten, dich
persönlich kennenzulernen - und das werde ich, sobald ich aus Großbritannien
zurück bin. Versprochen. Taras lehnt sich an den Tisch, schaut aus dem Fenster.
Im Hochhaus gegenüber gähnen schwarze, schläfrige Löcher, obwohl noch ein paar
Fernsehgeräte flimmern. Er zählt die schlaflosen Fenster, trommelt mit den
Knöcheln auf den Tisch, im Rhythmus des tropfenden Küchenwasserhahns.
Schließlich steht er auf, spült die Tasse aus, wischt sorgfältig jeden
einzelnen Brotkrümel von der Wachstuchdecke. Im Bad schäumt er sich kräftig die
Hände ein, hält sie unter den schwachen, immer wieder versiegenden Wasserstrahl,
studiert sein Gesicht im Spiegel. (»Vorsicht«, warnt der innere
Nachhilfelehrer. »Das sollte nicht zur abendlichen Routine werden.«) Diesmal
sieht man, was sich in ihm abspielt - am Beben seiner Nasenflügel, an den
vergrößerten Pupillen, an dem verstohlenen Lächeln unterm ingwergelben
Schnurrbart. Das geht tiefer als Nervosität. Obwohl er noch nie auf der Jagd
war, ist er sicher, dass sich so Jagdfieber anfühlen muss - wenn die Beute ganz
nah ist, raschelnd durchs Gebüsch huscht, nichts ahnend vom drohenden Tod.
    Er stellt das Radio an. Jetzt kommt Das Wetter
auf dem Planeten.
    Eine muntere Mädchenstimme neckt Schlaflose und Träumer
mit fernen Orten und exotischen Temperaturen:
    »Los Angeles, achtzehn Grad, sonnig. Kairo, dreiundzwanzig
Grad, voraussichtlich stürmisch. Oslo, zwei Grad Celsius.«
    Und dann: »In London Regen. Die Temperatur beträgt sieben
Grad Celsius.«
    Taras steht mitten im Bad, lauscht, trocknet seine linke
Hand, reibt sorgfältig die Fingerzwischenräume trocken. Soll er direkt nach
Cambridge reisen oder erst ein paar Tage in London verbringen? Kein Grund zur
Eile. Er hat noch zwei Wochen Zeit, sich zu entscheiden. Er wird
weiterarbeiten, im Archiv herumstöbern. Er wird die Akten öffnen und lesen,
sich Notizen machen, die Fakten sichten. Jahrelang hat er auf seine Chance
gewartet, jetzt kann er auch noch vierzehn Tage länger warten. Gedanken machen
wird er sich erst, wenn der Zeitpunkt dafür gekommen ist.
     
    5
     
    Cambridge/London, März 2001
    Taras hat die Reise gemäß der »Regel der drei Fragen«
geplant. Er erinnert sich, dass Oberst Surikow diese drei Regeln allwöchentlich
an die Tafel schrieb, während des ein Jahr dauernden Kurses über »Taktik und
Operationen« an der Akademie. Wo? Wann? Wie? Und dann
pflegte er hinzuzufügen - während er an die Tafel klopfte und die Kreide mit
unnötigem Kraftaufwand abrieb und zerkrümelte: »Denken Sie daran, die Frage Warum stellt
sich nicht. Diese Frage hat bereits vor dem Beginn der Operation jemand
beantwortet. Auf Ihrem Level müssen Sie nur noch drei Dinge entscheiden: Wo? Wann?
Wie?«
    Was die erste Frage betrifft, hat Taras keine Wahl. Wo? - das muss
Cambridge sein.
    Taras nimmt keine Karte zu Hilfe, nachdem er den Bus
verlassen hat: Er hat sich die Route genau eingeprägt. Muss ja nicht sein, dass
er sich verläuft, umherirrt, nach der Richtung fragt, unnötig Aufmerksamkeit
erregt.
    Vor dem Schild Privat. Masters Lodge bleibt er
einen Augenblick stehen und lächelt, als er an Surikows Bemerkung in der
Akademie denkt. »Denken Sie immer daran: Privateigentum, das ist eine kapitalistische
Idee, die unserem

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