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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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kommunalen Denken, unserer Lebensweise fremd ist - kein
Wunder, dass es im Russischen keine direkte Entsprechung für das Wort
>Privatsphäre< gibt!« Das College-Gebäude sieht genau so aus, wie er es
sich vorgestellt hat - ein Burgturm, und drei schwarze Hähne auf dem Wappen
über den Toren. Ein korpulenter Mann mit Bowler steht in der Einfahrt. Er sagt
nichts zu Taras, doch das braucht er auch gar nicht. Es ist ganz
offensichtlich, dass Taras hier kein willkommener Besucher ist. Er ist eben
jemand, der auf dem Weg zu dem kleinen Hotel in der Chesterton Road einen
Umweg gewählt hat, um einen Blick in eine andere Welt zu erhaschen. Als er am
College-Tor unter dem Schild Fahrräder und Hunde verboten stehen
bleibt, gerät er in einen Strom von Studenten. Die meisten tragen eine paradoxe
Kombination aus College-Schals und kurzärmligen T-Shirts.
    »Es gibt kaum einen traurigeren Anblick als einen
Engländer, der in dünnbesohlten Gentlemanschuhen in Moskau durch den
Januarschnee schlurft. Wärmen Sie ihn auf, geben Sie ihm was zu trinken, und er
wird Wachs in Ihren Händen sein« - auch eine von Surikows Weisheiten. Als Taras
die Gänsehaut auf den nackten Armen eines Jungen sieht, der in seinem blauen
T-Shirt vor ihm die Straße überquert, wird ihm klar, was sein Dozent gemeint
hat.
    Taras überlegt, wie viele dieser Studenten wohl den
»Magnificent Five« beitreten werden. Wie viele sind schon dabei? Werden sie
enden wie Kim Philby, in einer alten Wolljacke in einer Moskauer Wohnung? Aber
das sind Fragen, die Taras zum jetzigen Zeitpunkt, wo das Wann und Wie noch nicht
geklärt sind, nicht beantworten muss.
    Auf Midsummer Common ist, kurz vor der Brücke, ein
Jahrmarkt in vollem Gange. Lautes Gelächter, lärmende Musik, blinkende Lichter.
Taras überquert den Markt und bleibt vor einem gedruckten Plakat stehen: Wahrsagen
aus der Kristallkugel. Schicksal von Prinzessin Anne vorhergesagt! Und
darunter mit Kugelschreiber ein Zusatz in großen Druckbuchstaben: ERFOLGREICH. Eine ältere Ausgabe von Sara Samoilowna sitzt neben dem Plakat und
strickt an einem endlosen Schal. Sie sieht einen Augenblick lang auf. »Möchten
Sie Ihre Zukunft kennenlernen, junger Mann? Nur fünf Pfund!« Taras fragt sich,
wie er diese fünf Pfund bei den Spesen abrechnen kann (als »Investition in die
Zukunft«?), und geht mit einem energischen »Nein, danke!« an ihr vorbei. Da ertönt
ihre knarzende Stimme: »Du hast's faustdick hinter den Ohren, Jungchen! Bist
ein Galgenstrick! Aber sei auf der Hut!« Was zum Teufel meinte sie damit?
Irgendeine Redewendung. Muss er mal im Wörterbuch nachschlagen. Die Grünanlage
auf der anderen Straßenseite wirkt verlockend - Dutzende von Studenten
genießen das junge Frühlingsgras. Ihm fällt der Name auf dem Stadtplan ein:
Jesus Green. Wenn er den Pfad nimmt, der die Grünanlage diagonal
durchschneidet, kann er zur Linken den Weg am Fluss entlanggehen und über die
Brücke zurück zur Chesterton Road. Er betritt die dunkle Holzbrücke und bleibt
in der Mitte stehen, um ein paar Studenten vorbeizulassen. »Darren, bleib
sofort stehen!«
    Taras dreht sich um. Ein kleines Kind kommt über die
Brücke gerannt. Eine übergewichtige gestresste junge Mutter läuft keuchend
hinterher. Sie kommt nicht schnell genug voran, weil sie einen leeren
Kinderwagen hinter sich herzieht, außerdem scheint sie keine Autorität zu
besitzen. Der Junge tut so, als hätte seine Mutter ihn noch angefeuert und
»Los!« gerufen; er klettert munter auf das Gittergeländer.
    »Schau mal, Mami! Blume schwi-himmt!« Er balanciert auf
der Brüstung, beugt sich übers Wasser. Taras tritt ruhig hinter den Jungen,
schiebt ihm die Hände unter die winzigen Achselhöhlen, sanft, als läse er ein
Kätzchen auf. Dann hebt er Darren in die Luft und setzt ihn energisch auf der Brücke
ab, wo er auf seine Mutter und die Konsequenzen seines unartigen Verhaltens
warten muss.
    »O danke!« Sie verschnauft, sichtlich erleichtert. »Die
Brücke ist so gefährlich! Letztes Jahr ist hier ein Kind ums Leben gekommen.«
    »Wie ist das denn passiert?«, fragt Taras.
    »Ins Wasser gefallen. Ist zwar ziemlich flach hier, aber
er ist auf die 64. Schleuse
geprallt und hat sich das Genick gebrochen. Sehen Sie die Lilien? Seine Mutter
bringt jede Woche einen Strauß hierher. Der treibt flussabwärts, wenn sie für
die Schleppkähne die Schleusen öffnen.«
    Taras sieht nur weiße Blütenblätter unter dem Unrat aus
Zweigen, Zigarettenkippen,

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