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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Bonbonpapierchen an der Schleusenwand. Schon wieder
kreischt die junge Frau mit schriller Stimme: »Darren, halt! Warte! Nicht über
die Straße laufen, da kommt ein Auto! Darren, tu, was
ich dir sage!« Sie winkt Taras hastig zu und hetzt dem kleinen
Ausreißer nach, wie jeden Tag. Der hat's gut, der Kleine, denkt sich Taras.
Gleitet sorgenfrei durchs Leben, ohne etwas von den Gefahren zu ahnen, die an
jeder Ecke auf ihn warten ...
    Taras unterdrückt den Impuls, vor Freude zu hüpfen, und
geht nur eine Spur rascher als üblich zum Hotel zurück - um zu planen,
Vorbereitungen zu treffen. Die junge Frau hat ihn gerade auf eine Idee
gebracht...
     
    Am nächsten Tag ruft er von seinem Hotelzimmer aus Karpow
an. Aus dem Ausland eine Verbindung zur Datscha seines Chefs zu bekommen dauert
eine Ewigkeit. Nach den obligatorischen Witzen über das Wetter kommt man auf
die Liste der Mitbringsel zu sprechen: ein Angelgerät für Karpow, ein neues
Lego-Set für seinen Enkel.
    »Und? Was meinen Sie«, hallt es aus dem Hörer, »ist B denn die
richtige Größe?« Taras weiß, dass sein Chef nicht über Damenunterwäsche für
seine Frau spricht. Er bezieht sich auf Plan B der Operation.
    »Ja«, sagt Taras mit Nachdruck. »Ich denke, B wäre genau
richtig. Danke, Cambridge ist wunderbar. Für mich allerdings zu ruhig.
Vielleicht fahre ich morgen nach London.« Er legt auf, schaut aus dem Fenster
und beobachtet eine dicke Frau mit aufgedunsenem Gesicht, die einen mit
Lebensmitteln überfüllten Einkaufswagen aus dem Supermarkt hinter sich
herzieht. Taras steht entschlossen auf. Er wird hier nicht zaudernd herumhocken
und seine Tage wie einen dieser Einkaufswagen hinter sich herzerren. Morgen London,
dann zurück - zur Erkundung und Vorbereitung.
     
    Der Mittagszug fährt durch die Felder, transportiert nur
eine Handvoll Passagiere mit preiswerter Tagesrückfahrkarte in die Hauptstadt.
Taras hat vier komfortable Sitze und einen Tisch für sich allein. Eigentlich
hat er den ganzen Wagen für sich allein, bis auf einen schnarchenden Passagier
in der einen Ecke und ein schmusendes Schulschwänzerpärchen in der anderen. Er
öffnet seine braune Tasche und entnimmt ihr die Akte.
     
    Mai 1748. Streng geheim. An Seine Exzellenz, General Pustowitow,
Leiter der Geheimpolizei, St. Petersburg. Von Agent Christoforo Sachar.
Betrifft dewiza Sofia Polubotok, Enkelin des
verblichenen Kosaken Oberst Pawlo Polubotok. Donesenije.
    Reist derzeit durch Frankreich. Weitere Observation anempfohlen.
Erbitten freundlichst Erlaubnis, unseren Botschafter in London, Graf Saltikow,
über ihre Reise in Kenntnis setzen zu dürfen.
     
    Was für ein interessantes Wort ist doch dieses altmodische donesenije, denkt Taras. Es bedeutet sowohl
»geheimer Bericht mit Anschuldigungen« als auch »etwas, das zu Ende geführt
wurde«. Ist dies der Grund, warum jedes donesenije die Last
von Lüge und Verrat birgt?
    »Nehmen Sie den Bericht über die Reise dieser dewiza Sofia
mit«, hatte Oberst Karpow beim Mittagessen zu ihm gesagt. »Es dürfte ein
ziemliches Unterfangen gewesen sein, vor zweihundert Jahren allein durch Europa
zu reisen. Was muss für sie auf dem Spiel gestanden haben, dass sie so etwas wagte?«
     
    6
     
    Champagne, Frankreich, Mai 1748
    Sie hat jedes Zeitgefühl verloren. Das Knarren und
Quietschen der ausgeleierten Radfedern ist ein ewig gleiches Klangmuster, das
sich endlos wiederholt.
    Die Schlafkutsche, die sie am Anfang ihrer Reise als so
luxuriös empfunden hatte, verglichen mit dem polukartok - der leichten offenen Kutsche, die ihr Vater für Reisen zu den
Märkten benutzte -, scheint nur noch aus Ecken und Kanten zu bestehen; an
Ellbogen und Rücken lässt sich jedes einzelne Schlagloch der maroden
französischen Straßen ablesen. Und sie hatte geglaubt, die langen Pferderitte
durch die Steppen und die rauen Winter auf dem chutir, ihrem
einsamen Hof, hätten sie auf die Reise vorbereitet!
    »Sofia hätte als Junge auf die Welt kommen sollen«, lautet
die häufigste Bemerkung in ihrem Haushalt. Schon in ihrer Kindheit, als die
anderen Mädchen mit Strohpuppen spielten, konnte man Sofia - sofern sie nicht
im Obstgarten auf einem Kirschbaum saß oder durchs Weideland ritt - in einer
schattigen Ecke finden, wo sie die Lederbände aus der skrynja ihres
Großvaters zu lesen versuchte. Diese schwere Eichentruhe, das Porträt ihres
Großvaters und zwei silberne Kandelaber waren die einzigen Besitztümer, die
sie aus ihrem ehemaligen Haus hatte

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