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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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retten können. Ihre Mutter hatte ihr einst
den Kupferstich einer fünffenstrigen Villa in Tschernihiw gezeigt. Die Familie
war überstürzt geflohen, nachdem sie von einem wohlmeinenden Zeitgenossen
gewarnt worden war, es drohe eine Hausdurchsuchung durch die berühmt-berüchtigte
russische Geheimpolizei. »Wir sind früher einmal sehr reich gewesen, Sofia.«
Olena hatte die Stimme versagt. Doch Sofia fühlt sich nicht gerade mittellos.
Ihre Eltern haben zehn Bedienstete auf dem chutir, sie
besitzen eine Fabrik, zwanzig Bienenstöcke, dreihundert graue Kühe jener
berühmten Rasse, die auf den Viehmärkten so begehrt ist, und sie können in den
Wäldern des sotnyk jagen, des reichsten hiesigen
Großgrundbesitzers. Sofia ist recht zufrieden mit ihrem Leben. Man hat sie
tatsächlich erst ein einziges Mal weinen gesehen, mit fünfzehn, als der Vater
ihren Lieblingshengst zusammen mit vierzig weiteren Pferden an einen Breslauer
Händler verkaufte. Als Sofia davon erfuhr, brach sie nicht etwa in Geschrei
oder Wehklagen aus, wie das die Frauen taten. Sie eilte einfach nur vom Hof,
mit leerem Blick. Man merkte an ihrem Gang, dass sie weinte, ihre Schultern
bebten bei jedem Schritt - verletzt, voll Hass, verbittert, vernichtet,
verraten. Spät am Abend bewegten sich die Fackeln des Suchtrupps im Zickzack
über den Hof, um in die Wälder auszuschwärmen: »Wer weiß, wem das arme Mädchen
da draußen begegnet, und die Menschen sind heutzutage wohl noch gefährlicher
als die Wölfe!« Sofia kam im Morgengrauen zurück, durchquerte das Zimmer, um
den obrasok zu küssen, und rollte sich auf der
Bank zusammen, das Gesicht zur Wand gekehrt, den metallischen Geschmack des
Silbers auf den Lippen. Sie atmete den Geruch feuchten Lehms ein, vermischt mit
dem Duft von Beifuß und Pfefferminzbüscheln, die über ihr auf dem Eichenbalken
trockneten. Langsam, vorsichtig, atmete sie ihren Schmerz aus ...
     
    An ihrem sechzehnten Geburtstag, als sie mit ihrem Vater
aus den Ställen kam und über den Hof ging, machte Sofia mit bebender Stimme
eine Ankündigung, die sie in Gedanken Hunderte von Malen geprobt hatte. »Ich
habe über die Hochschule in Kiew nachgedacht, tato. Ich würde
gern dort studieren.«
    »Das ist unmöglich!« Jakiw Polubotok war erleichtert, dass
endlich einmal etwas nicht nach dem Kopf seiner Tochter ging. »Die Hochschule
nimmt nur Söhne aus Adelsfamilien auf.«
    »Aber ich bin aus einer
adligen Familie!«, protestierte Sofia. »Ja, aber du scheinst zu vergessen, dass
du ein Mädchen bist.« Jakiw rang um Geduld.
    »Aber, tato, die
Hochschule wurde von einer Frau gegründet! Unser Panas hat dort schon einen
Platz, obwohl du weißt, dass er sich eigentlich mehr für Säbel und Pistolen
interessiert und gar nicht hinmöchte. Ich bin wild entschlossen zu studieren, tato, um jeden
Preis! Ich muss die Welt sehen. Schauen, was aus Olexij geworden ist.«
    Die Geschichte von Olexij Rosum, Sohn des Gastwirts, war
eine Dorflegende. Wenn er nicht verträumt neben seiner Schafherde herzog, hatte
er im Chor der kleinen Dorfkirche gesungen, die an der Poststraße nach
Tschernihiw stand. »Als Schäfer taugst du nichts - da kannst du von mir aus
auch singen«, hatte sein Vater gebrummt.
    Olexijs Schicksal hatte ein Doppelkinn und duftete nach
teurem Tabak. Ein kaiserlicher Kurier, gesandt von der Zarin Elisabeth, um
edlen Tokajerwein aus Ungarn zu beschaffen, hatte auf dem Rückweg nach St.
Petersburg im Wirtshaus Station gemacht, um die Pferde zu wechseln und sich
auszuruhen. Gerade als er seine silberne Schnupftabakdose öffnete, hörte er
Olexijs Stimme. Sie klang engelhaft rein und wollte so gar nicht zum verrußten
Dunkel der Wirtsstube passen.
    Als der Kurier Olexij Rosum mitnahm, damit er in der
Hauptstadt sein Glück machte, war dieser zweiundzwanzig Jahre alt, unwissend
und talentiert. Wenige Jahre später hieß er Alexej Rasumowski und war einer der
wichtigsten Chorsänger in der Hofkapelle, dann wurde er Graf und schließlich
Feldmarschall. Es kursierte sogar das Gerücht, dass nicht nur seine Stimme die
Zarin bezaubere ...
    Jakiw sah seine Tochter an. Er wusste, wenn er nein sagte,
würde sie sich umdrehen und gehen. Nicht weglaufen - gehen, mit Würde, ohne
sich noch einmal umzublicken. »Überleg's dir noch mal, Mädchen«, murmelte
Jakiw. »Denk dran, dass dein Name auf Griechisch >Weisheit< bedeutet.«
     
    In jenem Herbst wurde Panas Polubotok bei den Sodales
Minoris Congregationis aufgenommen und bekam ein

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