Shevchenko, A.K.
musste das Mädchen seine Reise
allein fortsetzen, durch Polen nach Böhmen, dann nach Nürnberg und von dort weiter
nach Nancy, der Residenz der Herzöge von Lothringen. Allerdings nicht ganz
allein. Wassil, ein Diener der Familie, begleitete sie als Kutscher. Der Krieg
in Europa war zwar vorbei, aber die Straßen wimmelten immer noch von Räubern.
Einmal wurde Sofias Kutsche auf der Straße nach Orly angehalten. Sofia griff
schon nach der schweren türkischen Pistole ihres Vaters, um sich zu verteidigen.
Doch die Banditen beschlossen, sich nicht mit einem armen Studenten abzugeben.
Sie ahnten ja nicht, dass die eisernen Ränder des Fahrgestells randvoll mit
Goldmünzen waren, die Jakiw sorgfältig eingeschmiedet hatte.
»Wir sind da, Sofia!«, ruft Wassil endlich.
Sofia schaut aus dem Fenster. Sie passieren gerade eine
kleine Sandsteinkirche. Die Spitze der Bleikuppel erinnert an den Schnabel
eines durstigen Vogels, der verzweifelt auf einen Tropfen Regen wartet. Die
Kutsche überquert die Brücke, in deren Stein Meeresungeheuer mit traurigen
Gesichtern eingemeißelt sind, und hält an. Sofia steigt aus und muss sich erst
wieder ans Stehen gewöhnen.
Am Ende der Brücke befindet sich ein Tor, dessen Wappen
zwei gekreuzte Schwerter zeigt. Jenseits des Tors führt eine Pappelallee zu
einem Gebäude, das aussieht wie ein Schloss. Sofia stolpert zu dem rasch
dahinströmenden, seichten Fluss, wäscht sich das Gesicht, lässt Wasser durch
ihre Finger rinnen. Das Wasser verwandelt ihr Spiegelbild in Hunderte
gleißender Kräuselweilchen: ein erschöpfter Student in einem staubigen,
zerknitterten blauen Mantel. »Höchste Zeit, dass du wieder du selbst wirst,
Sofia«, denkt sie lächelnd und humpelt auf das Schloss zu, erfreut, dass
dieser Teil der Reise nun geschafft ist.
»Wir erreichen London, King's Gross. Bitte achten Sie darauf,
nichts liegen zu lassen.«
Taras ist dankbar für diese Erinnerung. Sofia hat bis
London noch einen langen Weg vor sich, Taras hingegen ist schon angekommen. Er
legt den Ordner mit Sofias Reiseschilderung wieder in seine Mappe, auf Oxanas
Akte, und tätschelt fast zärtlich das Plastik. Nun muss er sich um diese beiden
Mädchen kümmern, die, durch ein paar Jahrhunderte getrennt, durch denselben
Namen vereint sind und dasselbe Geheimnis hüten. Aber nicht mehr lange, nicht
mehr lange.
7
London, März 2001
»An der Rezeption wartet ein Besucher für Sie, Miss
Fletcher«, zwitschert Amy. »Nein, er kann keinen Termin für morgen vereinbaren.
Er sagt, es sei dringend und er sei nur einen Tag im Land. Er wartet nun schon
eine Stunde. Nein, Kate kann das nicht übernehmen. Sie ist nicht da. Sie sind
die Einzige, die noch im Büro ist.
Miss Fletcher wird Sie jetzt empfangen, Mr Woi... Wi...
Wisnjewski«, fährt sie, an den Besucher gewandt, munter fort. »Wirklich
schade, dass Kate momentan nicht im Büro ist. Erstens klingt ihr Name genauso
ko...«, sie hätte fast »komisch« gesagt und korrigiert sich rasch, »erstens
hat sie einen ganz ähnlichen Namen wie Sie, und zweitens kämen Sie viel
leichter mit ihr zurecht. Sie ist unsere Osteuropa-Expertin.« Ihr Lächeln ist
mehr als ein einstudiertes professionelles Lächeln, denn Mr Wisnjewski ist ein
attraktiver junger Mann in einem ebenso teuren wie dezenten Anzug aus der
Savile Row.
Taras erwidert das Lächeln. Er ist zufrieden mit sich. Er
hat herausgefunden, wie das Mädchen heißt (Amy), den Ursprung ihres Akzents
identifziert (Essex) und wird jetzt gleich einer der beiden Chefinnen dieser
angesehenen Anwaltskanzlei gegenübersitzen - dies alles mit
Konversationskenntnissen, die sich auf jenes dreistündige Verhör im Hotel
Ukraina beschränken. Hätte er vor der Reise doch nur mehr Gelegenheit zum Üben
gehabt! Wie hieß noch gleich das Sprichwort? »Übung macht den Meister« oder
»Üben macht den Meister«?
Seine innere Unterrichtsstunde wird durch ein Rascheln
unterbrochen. »Mr Wisnjewski, Sie mussten leider warten, ich bedaure, dass
sich das nicht vermeiden ließ. Wie kann ich Ihnen helfen?« Taras hat keine
Zeit, über die grammatikalische Konstruktion des Gehörten nachzudenken. Er
wendet sich in die Richtung, aus der die monotone Frauenstimme kam. »Eigentlich
Baron Wisnjewski - die polnische Regierung war so freundlich, meiner Familie
den Titel zurückzugeben. Sie müssen entschuldigen, dass ich ohne Termin
gekommen bin, aber ich halte mich nur ein paar Tage in London auf. Ich muss
mit jemandem über eine
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