Shevchenko, A.K.
schlendern sie zum Hotel zurück, spüren, wie es
zwischen ihnen knistert und funkt.
Kate weiß es, noch bevor sie den Lift betreten. Noch bevor
er mit erstickter Stimme »Kateryna ...« sagt. Sie hat Angst, ihn anzuschauen -
als könne er in ihren Augen lesen, was jetzt gleich geschehen wird. Sie wendet
sich ihm zu und begegnet seinen Lippen, wird hineingesogen in das schwarze Loch
des Universums, wo Zeit und Schwerkraft aufgehoben sind. Sie weiß nicht, wie
sie in das Zimmer gelangen. Ihr Körper zerfließt, all ihre Sinne konzentrieren
sich jetzt auf die Fingerspitzen: sein weiches Haar, seine samtene Haut, die
kühlen Laken.
Ihr schwereloser Körper nimmt ihn langsam auf, als kenne
sie ihn schon lange, als habe sie ihn schon oft gespürt und empfinde nun
endlich wieder die warme, lang vermisste Vertrautheit der Lust. Sie treibt an
die Oberfläche, holt keuchend Luft, das schwarze Loch explodiert und schleudert
sie in die Welt zurück, und sie hört von oben ihre eigene Stimme, spürt seine
Küsse, die ihre salzigen, tränenüberströmten Wangen bedecken ... Und dann
gleitet sie zurück in ihre Trance, in die Furche, die Stelle an seinem Hals,
wo eine lebhaft pulsierende Ader nach ihr ruft, ihr sagt, dass er da ist, ihre
Liebe, ihr Leben.
Sie erwacht mitten in der Nacht. Sie hört die Musik in
ihrem Innern. Er schläft mit nach hinten abgewinkelten Knien, den Kopf auf dem
Kissen nach vorn geneigt, als verkörpere er eine Letter aus einem alten, verschollenen
Alphabet. Wie ein S, aber weicher, fließender. Ein Vokal. Eindeutig ein Vokal,
ein langgezogener Laut, der tief unter den Rippen beginnt und in einem Seufzer
endet. Sie liegt dicht an ihn geschmiegt, wiederholt seine Form: ihre
Kniescheiben in seinen Kniekehlen, Nabel gegen sein Rückgrat, Brustwarzen in
der Kuhle zwischen seinen Schulterblättern. Sie sind zwei Lettern auf einem
weißen Laken und bilden ein magisches, unsterbliches Wort, das lautet:
»Harmonie«, »Anfang und Ende«, »der Fluss des Lebens«. Sie vermag das Wort
nicht auszusprechen, lauscht aber seinem Klang. Es ist rein und schlicht wie
eine C-Dur-Tonleiter. Jeder Ton neu. Jeder Ton vertraut. Sie will nachsehen, ob
das Leben draußen, hinter den dicken Glasscheiben, weitergeht. Darum löst sie
sich sanft, schlüpft aus dem Bett und schaut aus dem Fenster. Die avenida drunten
schläft nicht: Autos bremsen lautlos an Ampeln, stille Paare halten Händchen.
Die Welt lauscht der Melodie in Kates Innerem. Und diese Melodie schwillt an,
dehnt sich aus, Kate muss jemanden teilhaben lassen, sie muss die Melodie
singen, bevor sie aus ihr herausbricht. Sie denkt an die Zeitverschiebung. Vier
Uhr morgens - sieben Uhr in Großbritannien.
Sie wartet, bis abgenommen wird, dann haucht sie glücklich
in den Hörer: »Ich bin total verliebt, Babusya!«
»Oh, wie mich das für dich freut!« Die geliebte Stimme ist
durch den Widerhall des Ferngesprächs verzerrt. »Ihr wart euch ja in letzter
Zeit ein bisschen fremd geworden, du und Philip.«
» Babusya«, unterbricht
Kate, »Philip ist in New York. Das ist ... Nein, ich sag jetzt nichts, aber er
wird dir bestimmt gefallen. Dürfen wir am Sonntag zum Lunch zu dir kommen?«
12
London/Cambridge, 1. April 2001
»An der Rezeption ist jemand, der Sie sprechen will, Miss
Fletcher«, zwitschert Amy. »Ja, ich bitte ihn, zu warten.« Sie legt auf und
schenkt Kate ein routiniertes, etwas angespanntes Lächeln. »Kate, jetzt fragen
Sie mich schon das dritte Mal. Nein, es gibt keine Anrufe oder Nachrichten für
Sie. Und Sie brauchen auch nicht extra herunterzukommen. Ich ruf Sie an.«
Er hat sich gestern nicht gemeldet. Auch nicht am Sonntag.
Er besitzt kein Handy, also ist der Kontakt einseitig beziehungsweise
existiert nicht. Sie musste das gemeinsame Lunch bei Babusya absagen,
musste irgendetwas ins Telefon murmeln, als Philip anrief, und warten, warten,
warten ...
Sie vermisst Andrij nicht einfach nur - der größere,
bessere Teil ihres Wesens empfindet eine irrationale, unerklärliche, überwältigende
Sehnsucht nach ihm, so stark wie das Verlangen einer Schwangeren, Kreide zu
essen. Der verbleibende, leere Teil von ihr muss sich bewegen, essen, in
Philips Bett schlafen. Wenigstens ist Philip weg und sieht nicht, wie sie den
Bettdeckenzipfel umklammert, mit leerem Blick tagsüber irgendwelche
Fernsehshows anschaut. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Erklärungen.
Obwohl, mal ganz ehrlich, wann ist je der
richtige Zeitpunkt? Kates Verstand
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