Shevchenko, A.K.
fährt, drückt Kate endlich die Stirn gegen die Scheibe.
Schräg peitschender Regen zerfetzt die Landschaft in Dutzende verzerrter
Bilder - die grün aufleuchtenden Felder Hertfordshires mit kahlen, dunklen
Flecken zwischendrin. Kate erinnert sich an die braunen Punkte in seiner grünen
Iris, an sein vages, nervöses Lächeln. Der russischorthodoxe Priester hat ihr
einmal gesagt, dass die Seele, nachdem sie aus dem Körper entwichen ist, die
Erde am vierzigsten Tag verlassen wird. Er ist also noch da, bei ihr, und
drängt sie, das zu vollenden, was sie gemeinsam begonnen haben. Wird er sie
während dieser vierzig Tage beschützen? Sie fleht ihn an, sie nicht ausgerechnet
jetzt zu verlassen. »Könntest du mir noch fünf Minuten geben, nur noch fünf
Minuten, bis ich mich beruhigt habe? Vielleicht kannst du noch ein paar
Stunden bleiben, bis ich zu Hause bin? Sei bei mir, wenn ich ins Flugzeug
steige ... meinst du, die verhaften mich am Flughafen? Stehe ich unter Beobachtung?«
Aber sie hat keine Wahl. Sie muss fliegen. Um den anderen
Teil seiner Seele zu finden. Selbst wenn es sie vernichtet.
Sie ruft in der Kanzlei an. Sie hat das Gefühl, nicht
sprechen zu können, also hilft er ihr - wie immer auf seine distanzierte, ironishe
Art. Er bedient sich ihrer Stimme, um die Kanzlei anzurufen und mit Sandra, der
Abteilungssekretärin, zu sprechen: »Nein, ich komme heute nicht mehr ins Büro,
ich fahre direkt nach Hause, um zu packen. Heute Nacht geht ein Spätflug, den
ich unbedingt kriegen muss. Bitte buchen Sie das Hotel ... Ja, und bitten Sie
um eine Besprechung. Danke für all Ihre Hilfe, Sandra! Ich bin in ein paar
Tagen wieder zurück.«
Er liefert Kate sogar die Gründe für ihren überstürzten
Aufbruch - irgendeine dringende Familienangelegenheit. Schließlich hat Andrij
ja beinahe zur Familie gehört, nicht wahr?
Kate denkt an die tödlichen Zufälle, von denen in Andrijs
Dokumenten die Rede ist. Jeder, der diesem verdammten Testament hinterherjagt,
scheint dem Untergang geweiht. Sie versucht, logisch zu denken.
Der Botschafter in Wien wurde verhaftet und als
Volksverräter erschossen, noch vor Bolschaja Tschistka, der
Großen Säuberung der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als in den
Zwangslagern im Norden der Sowjetunion über fünfzehn Millionen Menschen
starben. Doch dieser Botschafter brachte einfach die falschen Voraussetzungen
mit, um Repräsentant eines sozialistischen Staats zu sein, und versuchte
damals, sich mit den Feinden der Republik zu verbünden.
Sie erinnert sich an andere Geschichten, die Andrij ihr
erzählt hat:
Die Geschichte jenes Vorsitzenden des Kongresses von
Polubotoks Nachkommen, der nach dem Kongress starb. Hier gab es allerdings
keine besonderen Vorfälle, er litt an einer akuten Form der Tuberkulose.
Und die Geschichte von dem Rechtsanwalt, der Anfang des 20. Jahrhunderts
vom Kongress nach London geschickt worden war, um das Erbe einzufordern; er kam
nie zurück. Doch dann gab es ein Gerücht, dass er sich abgesetzt habe, dass er
beschlossen habe, in London zu bleiben - mit dem Geld, das der Kongress
gesammelt hatte.
Für jeden dieser Fälle gibt es eine Erklärung. Was wird
sich wohl als Ursache für Andrijs Tod herausstellen? Ist sie die Richtige, um
das herauszufinden? Je rascher sie die Dokumente jemand anderem übergibt,
desto besser.
Sechs Stunden später liegt Andrijs immer noch nach
Mandarinen duftender Ordner auf ihrem Schoß.
Außer dem getippten Brief des ukrainischen Botschafters zu
Wien, in dem er das Treffen mit Grygorij Polubotok bestätigt, und einer
handgeschriebenen Kopie des Testaments, die Grygorij dem Botschafter 1922 vorlegte,
gibt es noch ein weiteres Dokument. Die Kopie eines von Dezember 1724 datierten
Berichts, den die russische Geheimpolizei über das Verhör Jefrems, des
Wächters der Peter-und-Paul-Festung, verfasst hat. In dem Verhör ging es um das
Treffen zwischen Zar Peter dem Großen und dem Kosakenschatzmeister Oberst
Pawlo Polubotok. Das Wachspapier ist mit fremdartigen Kringeln und Punkten
bedeckt, doch Kate kennt den Text auswendig, von der Abschrift her, die Andrij
in seiner kalligraphischen, exakten Lehrerhandschrift angefertigt hat. Sie
entnimmt dem Ordner Andrijs Abschrift und liest sie erneut, einfach nur um
seine Handschrift zu betrachten:
Peter-und-Paul-Festung, St. Petersburg Dezember 1724
An den Leiter der Tajnaja Kanzeljarija, General
Jamschtschikow.
Die Befragung des Wachtpostens am
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