Shevchenko, A.K.
Warnes?«
»Wir sollten gegen den Regen laufen«, sagt Andrij
ausweichend, und was er wirklich damit meint, wird ihr erst klar, als sie die
Hütte verlassen. Obwohl der Regen aufgehört hat, ist dies tatsächlich ein
»Gewitterstrom«. Das gelbe Wasser fällt über den offenen Abzugsgraben her. »Es
schießt in Richtung Fluss«, erklärt er, »und wir müssen in die entgegengesetzte
Richtung laufen, auf den Riachuelo zu.«
Die unbefestigte Gasse ist jetzt schlammig und glitschig.
Kate rutscht aus, und Andrij hält sie fest, indem er sie am Ellbogen packt,
wobei ihm fast das Holzkästchen in die stinkenden Fluten fällt - Kate ist
freudig überrascht, dass sie auf seiner Prioritätenliste noch vor dem Kästchen
kommt. Vielleicht war es aber auch nur eine instinktive Bewegung, weil er
selbst die Balance verloren hat. Während der ganzen Busfahrt zurück ins Zentrum
nagt dieser Gedanke an ihr.
Geduldig folgt der alte Bus allen Umleitungen, wartet an
defekten Ampeln, kriecht an der Bordsteinkante entlang, um dem Rushhour-Chaos
auszuweichen. Als Kate und Andrij schließlich die zentrale Busstation
erreichen, ist es schon dunkel. Sie entscheiden sich gegen ein Taxi - zu teuer.
Die Subte ist zwar billig und schnell, aber
im Untergrund sieht man kaum etwas von der Stadt. Also gehen sie zu Fuß,
vorbei an Gebäuden in sämtlichen Architekturstilen, vorbei an librerias, an Buchläden, die aus nur einem Raum bestehen - und in
denen Leute Kaffee trinken und plaudern -, vorbei an Pizzerias und Eissalons,
wo Studenten den Kopf in Bücher vergraben. Vorbei an Engeln mit abgebrochenen
Nasen in den Auslagen der Antiquitätengeschäfte, vorbei an riesigen Einkaufspassagen
mit engelhaften Schaufensterpuppen. Am Abend gleicht Buenos Aires einem
Rummelplatz - dieselbe Illusion von Fröhlichkeit und der Geruch nach
gegrilltem Rindfleisch, der aus den offenen Restaurantfenstern dringt und Kate
und Andrij ans Essen erinnert.
Sie entscheiden sich für eine kleine, volle Bar mit
knallrot karierten Tischdecken und quetschen sich an einen niedrigen
Holztisch, auf dem mit träger Flamme eine Kerze brennt. Während Andrij hungrig
die Speisekarte studiert, schaut Kate sich suchend um, wo denn die
melancholische Musik herkommt. In der Ecke spielt jemand auf einem kleinen
Akkordeon. Der Musiker könnte in der Zeitschrift Country
Life als walisischer Bauer posieren: gerötete Wangen, eine Nase
wie eine knollige Kartoffel, die kein Supermarkt ins Sortiment aufnehmen
würde. Sein linker Fuß steht auf einem Stuhl, das Instrument ruht auf dem Knie,
und mit seiner glänzend polierten Schuhspitze schlägt er den Takt. Vertieft in
die Musik, sitzt er mit geschlossenen Augen da und durchlebt von neuem die
selbstdurchlittene Variante universell gültiger Empfindungen.
Eine rauchige Melodie weht durch die stickig heiße Luft
herüber. Kate sieht im Reiseführer nach. »Er spielt ein bandoneon, das deutsche Soldaten zum ersten Mal nach Argentinien
brachten. Normalerweise ist es der Teil des Orchesters, der die Tangotänzer
begleitet.« Sie schlägt das Buch zu. »Nur haben wir hier weder Orchester noch
Tänzer.«
»O doch.« Andrij reißt sich von der Speisekarte und den
Beschreibungen der empanadas, salchichas und Parrilladas los. »Die tanzen auf dem Gehweg - direkt hinter Ihnen.«
Es ist keine Vorführung. Die beiden sind ein eindrucksvolles Paar. Sie arbeitet
wahrscheinlich als Sekretärin oder Buchhalterin und kommt direkt aus dem Büro.
Sie trägt ein knielanges, cremeweißes, geknöpftes Kleid und eine Miene
angestrengter Konzentration. Ihr Partner hat die Ärmel seines schwarzen Hemds
hochgekrempelt, man sieht die muskulösen Unterarme eines Maurers. Einer blickt
durch den anderen hindurch; ihre Beine züngeln wie Schlangenzungen in exakt
abgezirkelten Bewegungen. Als tanzten sie am Rand einer Klippe, als könnte ein falscher
Schritt sie in den Abgrund stürzen. Sein Knie berührt die Innenseite ihres Oberschenkels,
seine rechte Handfläche schiebt sie vorwärts, steuert die Bewegungen. Eins -
langer Schritt - Verliebtheit. Zwei - sie lehnt sich zurück - Hingabe. Der
starke Gefühlscocktail steigt Kate immer mehr zu Kopf. Sie denkt an
langgliedrige Chirurgenfinger, die ihren Rücken hinabgleiten - sie berühren,
halten ... Und später vielleicht sogar entkleiden. Sie fragt sich jetzt nicht
mehr, warum. Sie hat akzeptiert, dass es Dinge
im Leben gibt, die man nicht erklären kann. Man muss nur lernen, irgendwie
damit umzugehen.
Schweigend
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