Shevchenko, A.K.
Minute
schweigend nebeneinanderher gegangen sind, fügt er hinzu: »Sie sollten sie
nicht verurteilen. Diese Kinder sind so unberechenbar wie Naturkatastrophen -
sie sind eine Naturkatastrophe. Sie lernen
von Kindesbeinen an, allein zurechtzukommen und für sich selbst zu sorgen. Sie
sind der allerletzte Abschaum, aber hier sind sie in ihrem Element; es ist ihre
Welt, und niemand hat hier was zu suchen. Schauen Sie mal, Kate. Ich glaube,
wir haben das Haus gefunden!«
Die »Plakattür« ist tatsächlich kaum zu übersehen. Sie
besteht aus der Hälfte einer Werbetafel mit dem Porträt eines alten Gauchos und
bedeckt den Eingang der Bretterbude. Die zweite Hälfte des Gauchos lehnt
vermutlich an einer anderen Baracke, irgendwo in diesem ranzig riechenden
Gassenlabyrinth. Das verbleibende einäugige Gesicht, zerschrammt durch
abgekratzte oder abgewaschene Farbe, ist zur finsteren Grimasse verzerrt.
»Und hier, meine Damen und Herren,
sehen Sie ein wunderbares Beispiel für die hier üblichen Alarmsysteme, ein
äußerst effektives Hindernis für Kinderbanden!« Andrij spürt Kates Unbehagen.
»Lassen Sie mich vorgehen.«
Sie quetschen sich zwischen dem Sperrholzplakat und der
Wellblechwand in die Hütte und bleiben stehen, um sich ans Halbdunkel zu
gewöhnen, an das Dämmerlicht, das zögernd durch den unverglasten Fensterschlitz
sickert. Da der Raum leer wirkt, setzt Andrej seine Besichtigungstour fort. »Es
handelt sich um eine durchgehende Wohnfläche mit kühlem Zementboden, geradezu
ideal für das heiße Klima hier. In einer Ecke sehen Sie einen Mauervorsprung,
der problemlos als Tisch dienen kann, mit einem Tonkrug im hiesigen Design,
einer leeren Flasche und«, er schüttelt sich, »nicht unbedingt taufrischen
Lebensmitteln. Gehen wir nun in eine andere Ecke - was sehen wir da? Ein
erstaunlich ordentlicher Schrank, viel zu stattlich für ein Quartier dieser
Größe. Vielleicht fragen Sie sich, meine Damen und Herren, was sich darin
verbirgt ...«
Andrej ist zu exaltiert, zu aufgedreht, zu angespannt.
Kate hat ihn noch nie so herumalbern sehen. Falls er ihr damit im Dunkeln Mut
machen will, erreicht er genau das Gegenteil. Plötzlich wird Andrijs Tirade
durch einen matten, kehligen Laut unterbrochen, der aus der dritten Ecke
dringt. Das Wesen (Kate kann kaum erkennen, welchen Geschlechts es ist) liegt
auf einer Matratze am Boden. Es handelt sich eigentlich nur um eine
Luftmatratze in optimistischem Design, orange-türkis kariert. Wann hat sich
der Mensch, dem diese Luftmatratze gehört, das letzte Mal am Atlantikstrand in
der Sonne geräkelt? Das Wesen hätte für eines von Goyas Gemälden aus der
»schwarzen Periode« Modell stehen können - mit der aschfahlen, leichenblassen
Haut, den aufgerissenen Augen, die ins Nichts starren, dem klaffenden Mund.
»Und hier«, flüstert Andrij Kate vernehmlich zu, »sehen
wir ein eindrucksvolles Beispiel für die verheerenden Wirkungen des Alkohols
auf den Menschen ...« Er macht eine Pause. »... auf das, was einmal ein Mensch
gewesen ist.«
Sie schaudert zusammen. »Gehen wir. Es ist sinnlos. Was
kann der schon wissen?«
»Warten Sie. Bleiben Sie hier«, befiehlt Andrij und
verschwindet.
Kate bleibt allein zurück, steht mitten im Raum. Sie
verflucht ihre Sentimentalität und die Liebe zu Mandarinen, sie verflucht den
Anwaltsberuf, die Hitze und, natürlich, vor allem diesen wilden, naiven,
schlaksigen, sommersprossigen, exzentrischen (jetzt gehen ihr die Adjektive
aus) slawischen Jungen, der sie in diese Sache hineingezogen hat. Das Wesen
gibt jetzt kein Lebenszeichen mehr von sich. Kates Horror währt volle fünf
Minuten lang, bis Andrij mit zwei Flaschen Tequila zurückkehrt. Die vollbusige
Händlerin hat heute ihren Glückstag.
Andrij kauert sich neben den Mann, klopft ihm sanft auf
die Hand, als tätschelte er einen kranken Hund, und flüstert ihm etwas ins Ohr.
Das Wesen wendet den Kopf, starrt mit glasigem Blick auf die Flaschen und stößt
wieder einen dieser heiseren Laute aus. »Los, er erlaubt uns, seine Sachen zu
durchsuchen.« Andrij stürmt zum Schrank und lässt ihr gar keine Zeit, zu
überlegen. Es schockiert sie, dass auf einem Schrankbrett zwei akkurat gefaltete,
saubere Hemden liegen. Und auf einem Kleiderbügel hängt einsam eine marineblaue
Krawatte. »Eine Erinnerung an sein früheres Leben; die Hoffnung, dass er diese
Sachen vielleicht eines Tages wieder tragen wird«, vermutet Andrij. Auf dem
Boden des Schranks entdecken sie ein Paar
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