Shevchenko, A.K.
liefert ihr ein paar beruhigende Gründe für
sein Schweigen: Nach ihrer Rückkehr hat er die ganze Nacht an einem Aufsatz
gearbeitet, war dann am Ende seiner Kraft und hat zwölf Stunden am Stück
geschlafen ... dreizehn Stunden ... vierzehn. Die Gründe werden allmählich
immer besorgniserregender: Was, wenn er sich einen seltenen südamerikanischen
Virus eingefangen hat und bewusstlos im Krankenhaus liegt, am Tropf, außerstande,
sie zu kontaktieren? Oder hält er das, was in Argentinien zwischen ihnen
passiert ist, vielleicht inzwischen für einen großen Irrtum?
Am Montagmorgen fallen ihr dann keine Gründe mehr ein. Sie
wird zu einem gespenstischen Schatten und geht Amy, der Empfangsdame,
grässlich auf die Nerven. Gerade hat Kate beschlossen, sich einen Schnellzug
herauszusuchen, der in den nächsten zwei Stunden nach Cambridge fährt, als
endlich das Telefon klingelt und Amys triumphierendes »Ein dringender Anruf für
Sie, Kate!« sie wie elektrisiert hochfahren lässt. Aber es ist nicht Andrij. Es
ist jemand anders. Ein junger Mann, der ein wenig stammelt. Kate und er lachen
sogar noch, als er sich mit ihrem ungewöhnlichen Nachnamen abmüht. »Wenn es
ein Name ist, den Sie nicht aussprechen können, bin's vermutlich ich«, sagt sie
zu ihm. Nett, gleich am Montagmorgen so mit einem Fremden herumzuflachsen. Und
dann sagt der Mann: »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie,
wegen Andrij Sawtschuk.« Und dann macht er ihr die Mitteilung. Kates erster
Gedanke ist: l. April. Was für ein perverser Aprilscherz. Was für ein übler,
perverser Aprilscherz! Sie bestätigt den Zeitpunkt und den Ort des Treffens,
verlässt das Büro, nimmt einen Zug. Sie hat von diesem Schutzmechanismus
gelesen: Menschen im Schockzustand gehen, reden, handeln oft noch eine Weile
ganz normal, als wäre nichts passiert. Das Gehirn blockiert die Gefühle.
Schlägt einen schweren Deckel drüber zu und wartet.
Der Schnellzug nach Cambridge braucht eine
Dreiviertelstunde - die längsten fünfundvierzig Minuten ihres Lebens. Die
Rezeptionistin in der Zulassungsstelle ist höflich und sachlich. Ihre Reaktion,
als Kate versucht, mit ihr über Andrij zu sprechen, klingt wie eine Bandansage:
»Leider können wir Ihnen keinerlei Auskunft erteilen. Sie sind keine
Verwandte.« Kate muss es anders versuchen. Obwohl sie sich mit Kostüm und
Stöckelschuhen hier in diesem Innenhof zwischen Jeans und Pullis deplatziert
vorkommt, ist ihr Gesicht immer noch jung genug, also ... Ein Mädchen in
weißer Bluse und grauem Bleistiftrock läuft energisch an der Pförtnerloge
vorbei zu ihrem Abholfach. »Sie sehen ja richtig fesch aus!«, bemerkt ein
Pförtner. Small Talk gehört zu seinem Berufsbild.
»Ich habe heute mein erstes Vorstellungsgespräch.« Kate
schaut den Pfosten an, nicht ihn. »Und ich bin furchtbar nervös!«
Erst findet sie sein Abholfach nicht. Sie geht die rotgeschriebenen Namen
durch: SPIC, SPORT ... Nach ein paar Sekunden wird ihr klar, dass dies die
Abholfächer der Fachschaften sind, nicht die der Studenten. Wo sind dann die
Abholfächer der Studenten? Kate bemerkt eine weitere Reihe von Fächern um die
Ecke. Da der Pförtner glücklicherweise gerade damit beschäftigt ist, einen
Studenten abzumahnen, der sein Fahrrad über den Hof schieben wollte, eilt Kate
zu den Abholfächern der Studenten, liest die Namen auf gelbem Hintergrund: Anderson
... Lonsdale ... Sawtschuk. In Andrijs Abholfach befinden sich
zwei an ihn adressierte Kuverts: Seine Wohnung liegt außerhalb des Colleges,
in einem Wohnblock für Doktoranden.
Kate checkt den Touristenstadtplan, den sie am Bahnhof
mitgenommen hat - keine Entfernung fürs Fahrrad, zu Fuß jedoch ein ganzes
Stück. Sie rennt den ganzen Weg, bis sie den roten viktorianischen
Backsteinwohnblock erreicht, eilt durch die offene Tür, den Flur entlang, die
Treppen hinauf und checkt die Namen. Noch im Laufen sieht sie die Tür, und ihr
bleibt fast das Herz stehen: Die Tür mit dem Namen Andrij
Sawtschuk ist versiegelt. Ein gummierter Papierstreifen ist quer
darübergeklebt, er trägt den Stempel der Polizei Cambridge und einen
Signaturschnörkel. Obwohl Klopfen eigentlich keinen Zweck hat, schlägt Kate an
die Tür, hämmert vor Trauer mit den Fäusten dagegen.
Die Tür gegenüber geht auf, und jemand streckt den Kopf
heraus.
Dieser Jemand hat verwuscheltes, strohgelbes Haar und
dunkel funkelnde Augen und erinnert Kate an die Krähe im Zauberer
von Oz.
»Es hat keinen Sinn, das ganze
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