Shevchenko, A.K.
Brusttasche ein gesticktes Wappen
ziert. Vermutlich ein Internatsschüler, der über die Osterferien nach Hause fährt.
Obwohl er allein reist, hat er an alle Sicherheitsvorkehrungen gedacht - den
Gurt geschlossen, die Schuluniformjacke bis oben hin zugeknöpft, den Krawattenknoten
straff gezogen. Er spielt mit einem Gameboy; sein Gesicht ist zu einer Maske
der Konzentration erstarrt. Nur sein Hals verrät ihn - ein dünner, hellhäutiger
Hals, der aus dem schmutzigen Hemdkragen ragt wie im Februar ein
Narzissenschössling aus der Erde. Seine Mutter wird erst mal ein paar Tage
brauchen, um ihn aus seinem Schneckenhaus zu locken. Sie muss das Pflänzchen
gießen, hegen und pflegen, es schrecklich verwöhnen, eine Schicht nach der
anderen abschälen - zuerst die getragene Kleidung, dann diese
»Ich-weiß-dass-nicht-viele-Kinder-diese-Chance-bekommen-deshalb-sollte-ich-dankbar-sein«-Attitüde.
Irgendwann wird er dann kapitulieren, scheu den Kopf auf ihre Schulter legen,
sich weinend an ihren Hals schmiegen. Voller Freude, dass er ihren so
vertrauten Duft einatmen darf; voller Angst, dass dies nur ein vorübergehender
Zustand ist; voller Glück, dass er nun ganz schutzlos und doch uneingeschränkt,
unverschämt geborgen ist. Genau das Gefühl, das Kate jetzt so dringend braucht.
»Was spielst du denn da?«, fragt sie und versucht seinen Panzer zu
durchdringen.
Der Junge betrachtet sie unter seinen herausgewachsenen
Ponyfransen hervor. »Super Mario Brothers«, sagt er. »Deluxe«, fügt er stolz
hinzu.
Sie fragt: »Worum geht's denn da?«, und denkt: Warum
störst du ihn? Lass doch das Kind in Ruhe!
Der Junge muss telepathische Fähigkeiten besitzen, denn er
zwingt sich zu einem höflichen Ton. »Mario muss ein paar Feinde erledigen -
ein paar von diesen lästigen kleinen Pilzen, die dann vom Bildschirm
verschwinden. Keine persönlichen Feinde, nur böse Helden. Er muss springen,
treten, rennen und Prinzessin Peach aus den teuflischen Klauen eines riesigen
Drachen befreien. Ich bin gerade mitten in einer Verfolgungsjagd.« Ich auch, hätte
Kate fast gesagt. »Ich habe 853 Punkte
und würde gern 1000 erreichen. Wenn Sie mich jetzt
also bitte entschuldigen ...« Nicht schlecht formuliert für einen zehnjährigen
ukrainischen Jungen; kurz und sachlich. Die kriegen auf diesen staatlichen
Schulen wirklich Manieren beigebracht.
Kate tut so, als wäre sie gleichfalls beschäftigt, und
schlägt ihren Terminkalender auf. Für heute enthält er drei Einträge: Marina
(letzte) - grünes Kleid. Fiona (Katze). NY-Tickets. Alles
sehr wichtige, entscheidende Dinge, die sie in ihrem früheren Leben nicht
hätte vergessen dürfen und nicht vergessen hätte: letzte Anprobe eines Kleids,
das sie als Trauzeugin bei der Hochzeit ihrer Freundin Marina tragen wollte;
bei der Nachbarin Fiona klingeln, deren Katze sie während Fionas Spanienurlaub
füttern soll; die Flüge nach New York stornieren. Nun werden alle ohne sie
auskommen müssen. Sie befindet sich jetzt in einer anderen Realität, genau wie
dieser Junge neben ihr.
Der Pilot informiert seine Passagiere, dass sie gerade
Polen überfliegen. Kate blickt hinab auf das akkurate Schachmuster der Felder
- manche noch schneebedeckt, manche tiefschwarz. Sie hat ihren ersten
Schachzug getan: Flug London-Kiew. Dies ist nur ein Eröffnungszug, die
Einladung zu einem komplexeren Gambit, einer ausgeklügelten Kombination. Wird
sie die Partie bewältigen? Werden ihre Züge die eines Bauern sein oder die
einer Dame? Ihre Schachkenntnisse halten sich sehr in Grenzen. Der Pilot
spricht immer noch - er muss sich einsam fühlen da vorn, abgelenkt nur durch
die Crew und die Wolken. Jetzt erklärt er seinen Passagieren, es gehe ein
ziemlich starker Wind, weshalb die Maschine in etwa sechzig Minuten landen
werde. Kate bleibt eine Stunde, um einen Aktionsplan zu entwerfen. Eine Stunde,
um die Art von Kraft zu sammeln, die sie nie besessen hat. Sechzig Minuten,
»bis bessere Zeiten kommen«.
DIE GRENZE
Krai (ukrainisch; Substantiv, mask.)
Land, Grenze, Rand, Saum
TARAS
13
Kiew, April 2001
Die Stadt hat sich verändert, als hätte jemand einen
schwarz-weißen Schnappschuss gegen ein Hochglanzfarbfoto vertauscht. Er erinnert
sich an den Besuch in Kiew, damals, in seiner Studentenzeit, an die Palette
grauer Nuancen, einzig belebt durch die rotweißen Schriftzüge der
Sowjetplakate, die die Arbeiter dazu ermunterten, ihre Produktivität zu
steigern und den Fünfjahresplan in
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