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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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Fähigkeiten dafür
auserwählt, gab ihm die Chance zur Teilhabe an der wirklichen Macht.
    »Wenn Sie vielleicht erst darüber nachdenken wollen ...«,
fuhr der Oberst fort, »Danke, Towarischtsch Polkownik«, unterbrach
ihn Taras. »Ich habe schon darüber nachgedacht.« Er sagte nicht, wie oft. Ganz
ruhig. Lieber nicht allzu begeistert wirken.
    »Sind Sie absolut sicher, junger Mann? Es ist eine ernste
Verpflichtung; sie wird Ihr ganzes Leben verändern und ...«
    »Ich habe mich entschieden, Genosse Oberst.« Noch nie
zuvor hat der Gefreite Petrenko seinen Regimenstkommandanten unterbrochen. Und
jetzt sogar zweimal in einer Minute!
    Der Major, der in der Ecke gesessen hatte, stand auf.
»Ausgezeichnet. Dann müssen wir jetzt noch über die Einzelheiten sprechen,
Gefreiter Petrenko. Warten Sie einen Moment draußen.« Nicht dass Taras
gelauscht hätte, er bekam das, was drinnen gesprochen wurde, zwangsläufig mit.
Taras hatte noch nicht mal die Tür geschlossen, da begann der Oberst schon zu
reden: »Ganz ehrlich, Sergej, ich denke, er ist der Richtige für Sie. Er ist
stark, er ist intelligent, und, was das Wichtigste ist«, der Oberst legte eine
Pause ein, »er ist ein unbeschriebenes Blatt. Man hat ihm nichts beigebracht,
was Sie ihm wieder abtrainieren müssten. Sie haben die richtige Wahl getroffen.
Und jetzt, Wodka oder Kognak?«
    »Vermutlich haben Sie recht«, erwiderte der Major. »In
diesem Jungen steckt Potenzial. Dieser Kognak ist angenehm weich - ist der
armenisch? Ich habe gehört, dass die Kognakfabrik Ni in Eriwan hin und wieder
eine Selektionsflasche nach England schickt, an die Königinmutter. Glauben Sie,
das stimmt?« Taras wartete noch eine Weile vor der Tür, bis sie die Flasche geleert
hatten.
     
    Im August, nachdem er den Stoff vier Wochen lang in einem
Crashkurs wiederholt hatte, wurde Taras Student an der Historischen Fakultät
der Universität Lemberg. Obwohl er sich anstrengte, fiel ihm nach den zwei
Jahren Militärdrill, die hinter ihm lagen, das Lernen schwer; deshalb fand er
die Noten, die er für seine Zugangsprüfung erhielt, besser als seiner Leistung
eigentlich angemessen. Sein Mentor hatte sein erstes Versprechen gehalten.
Jetzt war er an der Reihe.
    Dass man ihn auf die Historische Fakultät der Universität
Lemberg schickte, war kein Zufall. Lemberg war erst 1939 Teil der
Sowjetunion geworden und barg immer noch Erinnerungen an seine mitteleuropäische
Vergangenheit und einen besseren Lebensstil: Von den Balkonen der Villen mit
ihren bogenüberwölbten Toreinfahrten starrten steinerne Löwen herab,
Straßenbahnen ratterten über die kopfsteingepflasterten Straßen des alten
Stadtzentrums. Trotz der atheistischen Propaganda quoll die riesige kostiol, die katholische
Kirche, von Menschen über, und an jeder Ecke lockten Cafes zu »Kuchen nach
Hausmacherart«, wozu starker Kaffee getrunken wurde - nach türkischer Art,
gebraut in einem kleinen Topf auf heißem Sand.
    Hier hatten die Menschen weniger Angst, offen ihre Meinung
zu äußern, und ihre Sicht der historischen Ereignisse, als »die Westukraine
auf eigenen Wunsch und aus freiem Willen 1939 der Sowjetunion
beitrat«, unterschied sich deutlich von dem, was in den Schulgeschichtsbüchern
stand. Hier schlug den Russen offener Hass entgegen, und wenn sich
russischsprechende Personen in der Stadt nach dem Weg erkundigten, wurden sie
oft einfach ignoriert. Laut KGB waren viele Studenten der Historischen Fakultät
der Universität Lemberg verkappte Dissidenten und Nationalisten und mussten
möglichst frühzeitig identifiziert werden. Taras war älter als die meisten
anderen Studenten seines Semesters. Deren jugendliche Naivität, ihre
kindlichen Träume und Schwärmereien ließen ihn kalt. Er hatte ein Ziel, dem
er alles andere unterordnete: Er musste sich einfügen und sich bei seinen
Kommilitonen beliebt machen. Er lernte, über ihre Witze zu lachen, die
gleichen Filme anzuschauen, den bärtigen Barden zu lausc hen, die früher mal Physiker gewesen waren. Mit seiner
einzigartigen militärischen Erfahrung (alle anderen Studenten kamen direkt von
der Schule), dem Akzent des westukrainischen Bergbewohners und seinem offenen
Lächeln (das er vor dem zersprungenen, schmutzigen Spiegel in der Toilette des
Studentenwohnheims gründlich einstudiert hatte) wurde er von seinen
Mitstudenten als eine Art großer Bruder akzeptiert. Vielleicht nicht so
weltgewandt und kultiviert wie die städtischen Intellektuellen, aber ein

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