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Shevchenko, A.K.

Shevchenko, A.K.

Titel: Shevchenko, A.K. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein fatales Erbe
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in ihrem Schlafgemach die
Wandbespannung aus blau bedruckter Seide. Aber sie ist müde.
Todmüde. Zum Umfallen müde. »Oh, ich muss Wassil unbedingt sagen, dass ...«,
und schon sinkt sie in tiefen, traumlosen Schlaf.
     
    Die Sonne neckt Sofia und spielt mit den tanzenden
Staubkörnchen. Sofia muss das Abendessen verschlafen haben und wohl sogar das
Frühstück. Sie blickt durch das schmale Fenster hinaus. Der Ausblick zur
Rechten wird beherrscht von den Kurven eines wuchtigen Dachaufbaus. Unten
gleiten zwei schwarze Schwäne wie Fragezeichen auf dem Wasser des Burggrabens
dahin. Sofia beschließt, ihr Gemach zu verlassen und nach Menschen und Antworten
zu suchen.
    »Aaah, Sofia!« Eine Dame im purpurroten Samtkleid winkt
ihr vom unteren Ende der Treppe her zu. Vermutlich die Gräfin. Wieder versagen
ihr die Beine fast den Dienst, aber diesmal, weil sie nervös ist.
    Graf Orly rettet sie. »Guten Morgen, dytynko! Das ist
meine Frau Helene.« Und er fügt hinzu: »Sie plaudert leidenschaftlich gerne!«
Wie Sofia bemerkt, spricht die Gräfin nicht nur leidenschaftlich gern, sondern
auch sehr schnell. Sie führt Sofia durch das Château, schüttelt immer wieder
sorgenvoll den Kopf, deutet auf marode Wände und bröckelndes Gemäuer. Sofia
vermutet, dass das Château über ein Jahrhundert alt ist und dringend renoviert
werden muss und Helene sich aufregt, weil es für die Instandsetzung an Zeit
oder an Geld mangelt. Vermutlich eher an Zeit, denkt Sofia und bewundert die
schwere Goldstickerei auf dem Kleid der Gräfin. Sie fragt sich, ob sie in
London ein Kleid brauchen wird. In ihrer skrynja hat sie
ein paar festliche Kleidungsstücke: ein reich besticktes Seidenhemd, das ihre
Mutter in der Tschernihiw-Kathedrale weihen ließ; eine schmal geschnittene,
gebördelte Weste, einen schwarzgemusterten Wollrock und aus feinstem
marokkanischem Leder gefertigte Schuhe mit roten Absätzen ... Aber kein Kleid.
Als könne sie Gedanken lesen, schlägt die Gräfin beim Mittagessen das Thema
Mode an. Der Graf übersetzt widerwillig: »Die Moden in Paris ändern sich so
rasch, dass sich eine Frau, wenn sie einen Monat auf dem Land verbringt, nach
ihrer Rückkehr neu einkleiden kann, weil ihre Sachen schon wieder komplett
veraltet sind. Ich besitze einige Kleider, die ich in Paris nicht mehr zu
tragen wage, aber in London wären sie immer noch der letzte Schrei. Sie können
Sie anprobieren, Sofia.«
    Als man ihr hilft, ein grünes Brokatkleid mit einem gelben
Seidenunterrock anzuziehen, schnappt Sofia nach Luft. Nicht nur aus Bewunderung.
Das Fischbeinmieder schneidet ihr in die Rippen und macht es ihr fast
unmöglich, zu knicksen oder sich umzudrehen. Sie betrachtet sich im Spiegel. So
hätte Feldmarschall Rasumowski sie für eine Hofdame gehalten. Die Gräfin
geleitet sie hinunter zum Kaffee. Sofia bekommt eine zarte blau-weiße Tasse,
die, wie ihr der Graf erklärt, aus dem berühmten chinesischen
Porzellan gefertigt ist. Die Tasse besitzt das makellose Weiß der
ersten Schneeflocken und fühlt sich glatt und seidig an. Da sich Sofia in dem
neuen Kleid nur ganz unbeholfen bewegen kann, entgleitet das fragile Kleinod
plötzlich ihren Fingern. Sofia starrt auf die Scherben am Boden und wird von
Scham- und Schuldgefühlen überwältigt. Sie möchte weglaufen, sich entschuldigen
- bringt aber auf Französisch kein Wort heraus. Der Graf rettet sie erneut. Er
trinkt seinen Kaffee aus und wirft die Tasse so heftig zu Boden, dass sie in
tausend Scherben zerspringt.
    »Scherben bringen Glück, Sofia«, bemerkt er lachend. »Und
wir werden in London alles Glück der Welt benötigen. Morgen brechen wir auf.
Ich weiß, dass ich Ihnen eigentlich ein paar Tage Rast gönnen sollte, aber die
Sache wird immer dringlicher. Sind Sie bereit, dytynko?«
    Sie nickt lächelnd und vergisst einen Moment lang die
zerbrochene Tasse, das Fischbeinmieder und sogar die schlaglochübersäten
Straßen Frankreichs: »Natürlich bin ich bereit!«
     
    Hat ihr Studium abgebrochen, um in geheimer Mission quer
durch Europa zu reisen, steht im Bericht der
Geheimpolizei. Taras ist versucht, die schwere Tür der Akademie aufzustoßen,
durch die Korridore zu streifen, sich unter die Studenten zu mischen, sich
Sofia hier vorzustellen, in der Bibliothek. Aber nicht jetzt. Sein Flug geht in
drei Stunden, von einem kleinen Flughafen aus, der am anderen Ende der Stadt
liegt. Dies bedeutet eine einstündige Fahrt in einem rumpelnden Minibus, dann
Umstieg in einen Shuttlebus. Du

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