Sheylah und die Zwillingsschluessel
Begräbnis bekommen“, beantwortet er ihre Frage. Das beruhigte Sheylah. Sie dachte schon, sie hätten einfach alle Leichen aufeinandergelegt. Andrey schaute ebenfalls auf den Haufen und plötzlich durchfuhr ihn ein heftiges Zittern am ganzen Körper. „Was hast du?“, wollte Sheylah wissen und schaute ihn besorgt an. Sie wich erschrocken zurück, als sein Gesicht plötzlich verschwamm. Es war, als wollte ihm die Haut von den Knochen kriechen. Andrey schrie auf, dann krümmte er sich und hielt sich die Hände vors Gesicht. Sheylah wich immer weiter zurück. Einerseits wollte sie ihm helfen, doch sie wusste nicht wie, andererseits hatte sie Angst vor ihm. Was war nur mit ihm los? Als Andrey bemerkte, dass sie zurückwich, streckte er eine Hand nach ihr aus. „Warte, geh nicht, bitte.“ Sheylah blieb stehen. „Was ist nur mit dir los, Andrey? Soll ich Djego holen?“ „Nein, es … geht schon wieder“, presste er hervor und schaute sie an. Das Zittern hatte tatsächlich aufgehört und sein Gesicht war wieder normal. „Es ist das Gift. Ich glaube, es breitet sich wieder aus.“ Sheylah hatte ihre Angst überwunden und ging zu ihm. „Dann müssen wir dich zu einem Arzt bringen, so schnell wie möglich.“ Andrey sah sie mitleidig an, als müsse er einem Kind erklären, dass der Weihnachtsmann doch nicht existierte. „Bis dahin ist es zu spät. Ich werde es nicht mehr nach Torga schaffen.“ Sheylah begriff nicht. „Was redest du denn da? Bis nach Torga ist es keinen Tag mehr. Wo ist bloß Djego?“, rief sie panisch. „Djego weiß, was los ist, er kann mir nicht helfen. Deswegen hat er auch so reagiert, es ist zu spät.“ Sheylah konnte nicht glauben, dass er einfach so aufgab und das mit einer Lässigkeit, als hätte er sich nur einen Kratzer geholt. „Wieso tust du das? Warum willst du dir nicht helfen lassen?“
Sheylah verstand es einfach nicht. Andrey sagte nichts, er führte sie von der Grube weg. Als sie an einem Baum standen, blieb er stehen und schaute sich hektisch um. „Es gibt da vielleicht etwas, das mir helfen kann.“ Andrey starrte sie an. „Was meinst du?“ „Ich rede von deinem Schlüssel, Tarem.“ „Meinem …“ Moment mal, woher wusste er von ihrem Schlüssel, geschweige denn, wie er hieß? „Zeig ihn mir!“, forderte er barsch. Sheylah war von seinem plötzlichen Ton verwirrt. Doch sie gehorchte und holte Tarem unter ihrem Shirt hervor. Andreys Augen begannen zu leuchten. „Ich kann ihn spüren“, sagte er und packte sie sanft bei den Schultern. Spüren? Sie hielt ihn doch direkt vor seine Nase? Andreys sonderbares Verhalten irritierte sie immer mehr. „Dieser Zwillingsschlüssel wird den Krieg ein für alle Mal beenden und ich habe ihn gefunden.“ Er zog sie ganz langsam zu sich heran und beugte seinen Kopf zu ihr hinunter. Wollte er sie etwa küssen? Sie kannten sich doch erst seit einem Tag. Trotzdem fühlte sie sich auf eine sonderbare Art zu ihm hingezogen, musste sie sich eingestehen. Bevor sich ihre Lippen jedoch berührten, erklang eine tiefe grimmige Stimme hinter Andrey. „Du solltest lernen, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden“, sagte Djego und rammte Andrey das Schwert bis zum Heft in die Brust. Blut strömte mit schwindelerregender Schnelligkeit aus Andreys Brust und seine Kleidung hinunter. Binnen Sekunden leuchtete sein weißes Hemd dunkelrot und Sheylah erstarrte. Sie konnte nicht begreifen, was eben geschehen war und Andrey ebenso wenig, denn er schaute sie noch einen Moment ungerührt an. Djego zog sein Schwert aus Andreys Brust und wich zurück. Einen Moment blieb Andrey stehen und Sheylah sah, wie jede Menschlichkeit aus seinen Augen wich, dann sank er auf die Knie und sie mit ihm. Sie packte ihn an den Schultern, so dass er nicht nach vorn kippen konnte und sah an Andreys Schulter vorbei zu Djego. „Was hast du getan?“, brachte sie schließlich hervor.
Das Atmen fiel ihr schwer, ebenso das Denken. Es kam ihr alles so unwirklich vor. „Er ist nicht der, für den du ihn hältst. Hätte ich ihn nicht aufgehalten, hätte er dich getötet“, sagte Djego. Seine Stimme klang emotionslos. Sheylah konnte es immer noch nicht glauben. „Was zum Teufel redest du da?“, schrie sie. „Er wollte mich küssen und du hast ihn …“, ihre Stimme erstarb, als sie einen Weinkrampf bekam. „Tritt beiseite, dann wirst du es sehen.“ Er wollte sie von Andrey wegziehen, doch sie schlug seine Hände weg. „Fass mich nicht an, du Mörder“, schrie sie.
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