Sheylah und die Zwillingsschluessel
einundzwanzigsten Jahrhundert befand. Ohne den Blick von den Menschen zu lösen, zog sie an Djegos Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. „Findet hier ein mittelalterliches Fest statt?“ „Ich weiß nicht, was ein Mittelalter ist, aber ein Fest wird hier nicht gefeuert. Was du hier siehst, ist das tägliche Treiben der größten Stadt des Königreiches. Warte nur ab, wenn du Torga am Tage erlebst“, antwortete er und Stolz schwang in seiner Stimme mit. Sheylah konnte es nicht glauben, wollte es nicht. Das musste ein Traum sein, ein sehr intensiver sogar, alles andere war undenkbar. Doch warum in Gottes Namen fühlte sich dann alles so real an? Wie in Trance bewegte sich Sheylah auf die Stadtmauer zu. Sie wollte das Gestein berühren und sichergehen, dass es kein Plastik war. Sie schaute noch einmal zurück zu Djego, der sich mit einer Stadtwache unterhielt, dann legte sie die Hände auf das Gestein, die neugierigen Blicke der Menschen ignorierend. Djego bemerkte Sheylahs Abwesenheit und eilte herbei. „Es fühlt sich echt an, Djego, alles hier ist so echt“, flüsterte Sheylah und rang um Fassung. Sie wusste selbst nicht, warum sie das so mitnahm. Vielleicht, flüsterte es in ihrem Kopf, weil es deine schlimmste Befürchtung wahr werden lässt. Mit besorgter Miene fasste Djego sie an den Schultern. „Ich weiß, wie schwer das für dich sein muss, aber du musst einsehen, dass Torga kein Traum ist, genauso wenig wie ich oder Andrey oder unsere Feinde. Von nun an bist du nicht mehr Sheylah, sondern unsere verlorengegangene Zizilia, Prinzessin von Torga“, sagte er und berührte sie an der Schulter. Konnte das sein, konnte er wirklich Recht haben?
Sheylah konnte nicht länger leugnen, dass die Stadt um sie herum real war, aber eines wusste sie ganz sicher, eine Prinzessin war sie nicht. Ein kleines Mädchen, vielleicht sieben Jahre alt, hüpfte lachend auf sie zu. Als sie Sheylah eines genaueren Blickes würdigte, erstarrte sie jedoch und Sheylah wusste auch warum. Ihre, für diese Leute wahrscheinlich sonderbare, Kleidung bestand nur noch aus Stofffetzen, ihre Füße bluteten und waren aufgerissen. An Armen und Beinen hatte sie unzählige Kratzer und Prellungen, ihr Gesicht musste vor Dreck starren und ihre Haare klebten von Blut. Die Mutter des Mädchens kam herbeigeeilt und packte es am Arm. „Schau mal, Mutter, eine dreckige Frau“, sagte das Mädchen und zeigte mit dem Finger auf Sheylah. Die Frau warf Sheylah einen geringschätzigen Blick zu und schüttelte den Kopf. „Dreckiges Gesindel“, meckerte sie und zog ihre Tochter von ihr fort. Sheylah zuckte nur mit den Schultern und machte der Frau keinen Vorwurf. „Wie alt ist diese Stadt?“, fragte sie, als sie sich wieder zu Djego gesellt hatte. „Die Stadtmauern sind erst dreihundert Jahre alt, aber Torga selbst über sechshundert.“ Soweit Sheylahs Blick reichte, sah sie mehrstöckige Häuser, Geschäfte, Marktstände und verwinkelte dunkle Gassen. Das hier war mit Abstand die größte mittelalterliche Stadt, die sie jemals gesehen hatte – nicht, dass sie überhaupt schon jemals eine zu Gesicht bekommen hätte, außer auf der Leinwand. Sheylah hörte Pferde näherkommen und schaute fragend zu Djego auf. „Unsere Leibgarde ist da“, sagte er. „Wozu brauchen wir eine Leibgarde? Ich dachte, wir wären in den Mauern sicher“, fragte Sheylah vorwurfsvoll. „Vor den Skintii ja, aber hier treibt sich eine Menge Abschaum herum, besonders zu so später Stunde.“ Bei der Leibgarde handelte es sich um fünf graue Ritter, die auf edlen Pferden geritten kamen, welche ebenfalls grau gepanzert waren. Sie schlossen Sheylah und Djego in ihre Mitte und eskortierten sie in die Stadt.
„Wo gehen wir jetzt hin?“, fragte Sheylah und schaute sich begeistert um, als sie einen gewaltigen Marktplatz passierten, der aus Hunderten von Ständen bestand. „Zum Schloss natürlich“, antwortete Djego und schaute sie schon wieder so komisch an. „Ein richtiges Schloss also. Cool.“ Djego ignorierte sie, sowie er es immer tat, wenn er sie nicht verstand. Immer, dachte Sheylah belustigt, sie kannte ihn doch gerade mal zwei Tage. Es wurde zunehmend leerer auf den Straßen, je weiter sie in die Stadt hineinkamen. Viele Kaufleute waren jetzt damit beschäftigt, ihre Stände zu schließen und zu räumen. Mütter riefen ihre Kinder zum Abendessen und Zubettgehen und Bettler richteten ihr Nachtlager ein. Es war ein überwältigender Anblick. Solch eine
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