Sheylah und die Zwillingsschluessel
mittelalterliche Ortschaft sah man sonst nur in Filmen, aber das alles mitzuerleben, war beängstigend und atemberaubend zugleich. Verschiedene Gerüche schlugen Sheylah entgegen, je weiter sie in den Markt eindrangen. Es roch überwältigend nach frischem Obst und Pilzen, nach Fisch, geräuchertem Fleisch, nach fremdartigen Gewürzen und süßen, schweren Blütendüften, aber auch nach Viehstall, Dreck und Fäkalien. Es waren so viele verschiedene Gerüche, dass Sheylah nicht hätte aufzählen können, welche genau sie an diesem Abend alle wahrgenommen hatte. Doch bei einem war sie sich sicher: Ein normaler Mensch hätte die vielen Gerüche nicht so intensiv erlebt, wie sie es tat. Obwohl sie manchmal noch Dutzende von Metern vom nächsten Stand entfernt waren, konnte Sheylah ganz genau sagen, was dort verkauft wurde – ohne das Geschäft zu sehen. Doch sie roch noch etwas anderes.
Es war sehr weit entfernt und diesmal konnte sie die Richtung nicht ausfindig machen, aus der der Geruch kam, aber sie erkannte ihn mit ziemlicher Sicherheit. Es roch nach frischem Blut. Sie wusste nicht, woher sie die Gewissheit nahm, aber irgendwo in der Stadt wurde vor nicht allzu langer Zeit Blut vergossen. Es war natürlich unmöglich, dass sie das Blut riechen konnte, aber seit sie vor zwei Tagen in der Wüste aufgewacht war, hatte sich vieles, das ihr vorher unmöglich erschien, als möglich herausgestellt. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern versuchte sich alles, was sie sah, genauestens einzuprägen. Nachts würde sie sich jedenfalls nicht allein in Torga herumtreiben, soviel stand fest. Als sie das Schloss erreichten, wunderte sich Sheylah, warum sie es nicht schon von der Stadtmauer aus gesehen hatte. Es war zwar dunkel geworden, doch der monströse Umriss vor ihnen glich eher einer Festung. Riesig war gar kein Begriff, es sah gewaltig und furchteinflößend aus. Das lag vielleicht nur daran, dass es Nacht war, aber am Tage musste das Bauwerk trotzdem eindrucksvoll aussehen. Der erste Eindruck einer Festung bestätigte sich, als sie noch näher kamen. Denn zum Schutz war das Schloss zusätzlich von meterdicken Mauern umgeben.
Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Torga jemals schon angegriffen worden war, nicht einmal dem dümmsten Feind traute sie solche Unvernunft zu. Das Schloss hatte zwei große und dicke Türme. In einem brannte schwaches Licht, ansonsten sah Sheylah nur wenige Lichter im Schloss. Als sie sich unmittelbar vor dem gewaltigen Mauerwerk befanden, mussten sie ein weiteres Tor passieren. Doch bevor sich die wuchtigen Türen des Tores öffneten, wurde eine Zugbrücke heruntergelassen, die sie überquerten. Wer auch immer das konstruiert hatte, musste großen Wert auf seine Sicherheit gelegt haben. Hinter dem Tor erstreckte sich ein großzügiger Schlosshof. Eine gewaltige goldene Statue eines Königs ragte in der Mitte des Hofes auf und gab Sheylah das Gefühl, winzig zu sein. Um seinen Hals hing eine Kette mit zwei identischen Schlüsseln und unter dem rechten Arm trug er eine schmucklose Truhe. Sheylah ging ein Stück näher und betrachtete die Schlüssel. Völlig unmöglich, sie wandte sich ab und entdeckte noch weitere Figuren auf den Mauern. „Abgefahren!“ „Was sagst du?“, fragte Djego und winkte ihre Leibgarde fort. „Es … ist umwerfend“, verbesserte sie sich. Sie musste sich noch daran gewöhnen, dass man ihre Ausdrucksweise hier nicht immer verstand. „Es gefällt dir?“, fragte er und ein Hauch von Stolz schwang in seiner Stimme mit, so, als hätte er selbst das Schloss errichtet. Sheylah sah sich weiter um. Die Steine des Innenhofes hatten einen schimmernden weißen Farbton und in der Nähe der königlichen Statue stand ein kleiner, weißer Brunnen. Sheylah ließ sich auf dem Rand des Brunnens nieder und tauchte ihr Hände in das kühle Wasser. „Was macht ihr da?“, fragte eine ihr unbekannte Stimme. Sheylah drehte sich zu einem Knaben von vielleicht sechzehn Jahren herum. Er hatte rotes schulterlanges Haar und für sein Alter ein sehr markantes Gesicht. Er erinnerte sie an jemanden. Der Knabe schritt auf Sheylah zu, seinen Speer hatte er zu Boden gerichtet. „Nur Königsgleiche dürfen das heilige Wasser des Johannesbrunnens trinken“, sagte er und schaute sie tadelnd an, als sich Djego einmischte. „Was fällt dir ein, Madriko? Sie ist heiliger als alles andere hier im Schloss. Knie nieder vor deiner Prinzessin“, sagte er streng. Wie vom Blitz getroffen, sank der
Weitere Kostenlose Bücher