Sheylah und die Zwillingsschluessel
ihr was? Nennt mich, wie ihr wollt, bloß nicht Herrin.“ „Wie Ihr wünscht“, sagte die Erste und machte einen leichten Knicks. Sheylah nahm es kommentarlos hin. „Lebt ihr hier?“, fragte sie und setzte sich auf einen Hocker direkt neben dem Geschirr. Über die erschütterten Gesichter musste Sheylah lachen. „Wenn ihr eure Gesichter sehen könntet. Das macht mir nichts aus, ich bin damit aufgewachsen“, erklärte sie und zeigte mit der Hand auf die Geschirrberge. „Heißt das, Ihr könnt arbeiten?“, fragte das erste Mädchen und tauschte einen verschwörerischen Blick mit der anderen. „Selbstverständlich kann ich arbeiten“, sagte Sheylah und stand auf. Sie krempelte ihre Ärmel hoch und ging zum Waschbecken. Als sie ihre Hände in das kalte Wasser tauchte, ohne jede Spur von Ekel, weiteten sich die Augen der Mädchen. Sheylah wusch einen Teller nach dem anderen und musste die ganze Zeit über grinsen. „Seht ihr, kein Problem für mich.“ Das zweite Mädchen eilte herbei und trocknete das Geschirr ab. Die andere kratzte den Schmutz von den Tellern und reichte sie ihr. „Wohnt ihr hier?“, fragte Sheylah nach einer Weile erneut. Sie kamen zügig voran. „Wir und acht andere Mädchen.“ „Und euch gefällt die Arbeit, ja?“ Das erste Mädchen zögerte einen Moment, bevor es antwortete. „Ja, ich … wir haben es gut hier. Mit dem Geld, das wir verdienen, können wir unsere Familien ernähren.“ „Ihr habt Familie?“ „Nicht hier. Meine Eltern leben westlich von Lichtingen, in Torbähis, einer verwüsteten Stadt“, antwortete sie verbittert. „Meine Familie lebt in Torentell, einer anderen Stadt südlich von hier, bei mir ist es dasselbe. Torbähis und Torentell waren einmal reiche und angesehene Städte. Aber die Skintii haben sie zerstört und niedergebrannt, so dass es kaum möglich ist, dort zu leben“, sagte die zweite traurig. „Warum holt ihr eure Familien dann nicht hierher oder zieht nach Torga?“ Die Mädchen tauschten einen Blick miteinander, ehe sie antworteten. „Hier ist zu wenig Platz und in Torga will man uns Bauernpack nicht haben. Torga ist etwas für die Reichen.“ Sheylah hob die Brauen. „Das hat man euch erzählt? Glaubt mir, in Torga leben genauso viel arme wie reiche Menschen. Bauernpack, dass ich nicht lache! Wenn ihr wüsstet, was sich dort für Gesindel herumtreibt.“ Als die Mädchen nicht antworteten, fragte Sheylah: „Torbähis und Torentell waren also einst angesehen, ja?“ Das zweite Mädchen schaute verträumt aus dem Fenster, als es antwortete: „Vor langer Zeit bestand das Königreich aus drei großen Städten. Torga, Stadt der Gelehrten, Torentell, Stadt der Ernte und Torbähis, Stadt der Krieger. Es ist Jahrzehnte her und wir haben sie nie in ihrer Blütezeit erlebt, aber wir hoffen, dabei zu sein, wenn sie eines Tages wieder errichtet werden.“ Sheylahs Neugierde war endgültig geweckt. „Wieso war Torentell die Stadt der Ernte?“ „Weil kein Boden so fruchtbar war wie der Torentells. Er war wie verzaubert. Wenn man etwas säte, konnte man jeden Monat aufs Neue ernten. Ihr müsst Euch vorstellen, die Menschen hatten Lebensmittel im Überfluss. Man hatte so viele Vorräte, dass alle drei Städte versorgt werden konnten. Sogar das Vieh war im Übermaß vorhanden. Torbähis hatte die stattlichsten und besten Kämpfer im ganzen Land. Aber als der Krieg begann, wurden sie abgezogen und kehrten nie wieder zurück. In Torga hatte man in Schulen und Kirchen investiert und so gingen viele Geistliche und Gelehrte hervor. Heute ist nichts mehr von ihnen übrig. Die Armen, die kein Geld oder die Kraft haben, wegzuziehen, müssen dort bleiben. Hauptsächlich durch uns können sie überleben.“ „Aber die Gräfin hat uns aus dieser Armut befreit und bezahlt uns großzügig für unsere Dienste, nicht wahr Melissa?“, fügte die zweite schnell hinzu, als hätte Melissa die Gräfin beleidigt. „Ja, Hanna.“ Hanna und Melissa also. „Eins verspreche ich euch. Wenn der Krieg vorbei ist, hole ich eure Familien nach Torga“, versprach Sheylah. Die Mädchen wechselten einen Blick. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Sheylah verwundert. „Nein, das ist es nicht“, sagte Hanna. „Trotz der Armut lieben wir unser Zuhause, genauso wie unsere Familien. Sie wollen nicht von dort weg und wenn wir beide genug Geld gespart haben, gehen wir wieder zurück und bauen uns riesige Häuser.“ „Und schaffen uns starke Männer an“, fügte Melissa
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