Shibumi: Thriller (German Edition)
um ein weniges weitergerückt, um die spanischen Grenzpolizisten, die in diesem Gebiet patrouillierten, zu täuschen. Diese Grenzberichtigung erschien ihnen absolut legitim; denn schließlich war das gesamte Gebiet Baskenland, und für sie galten die willkürlich von den beiden Besatzungsmächten gezogenen Grenzen nicht.
Es gab aber noch einen anderen Grund für das Verschieben der Grenzsteine. Da Le Cagot und die beiden jungen Basken an der Winde bekannte Aktivisten der ETA waren, konnte ein Auftauchen der spanischen Grenzpolizei, während sie in der Höhle arbeiteten, bedeuten, dass sie ihr Leben in einem spanischen Gefängnis beschließen mussten.
Obwohl der Gouffre Porte-de-Larrau in relativ großer Entfernung von jenen trichterförmigen Vertiefungen lag, die das Gebiet um den Pic d’Anie charakterisieren und ihm die Bezeichnung »Gruyère von Frankreich« eingetragen haben, war er zuweilen von neugierigen Höhlenforscherteams aufgesucht worden, die ihn jedoch alle zu ihrer Enttäuschung »trocken« fanden, das heißt, der Schacht war schon nach wenigen Metern von Gesteinstrümmern verstopft. Mit der Zeit sprach es sich in der kleinen Gemeinde der Höhlenforscher herum, dass es keinen Sinn hatte, die lange Klettertour zum Gouffre Porte-de-Larrau hinauf zu machen, zumal es in dem weiten gouffre- Feld oberhalb von Sainte-Engrace doch so viel mehr Möglichkeiten zu sportlicher Betätigung gab, dort, wo die Berghänge und Hochplateaus mit den konischen Vertiefungen der gouffres übersät waren, die durch Einbrüche von Oberflächenfels und Erdreich in die Höhlensysteme des kalkhaltigen Gesteins darunter entstanden waren. Vor einem Jahr jedoch hatten zwei Schafhirten, die auf den hochgelegenen Weiden ihre Herden grasen ließen, am Rand des Gouffre Porte-de-Larrau gesessen, um ihr Frühstück einzunehmen: frischen Käse, hartes Brot und xoritzo, eine kräftige, rote Wurst, von der ein kleiner Bissen genügt, um einen großen Mundvoll Brot zu würzen. Einer der beiden warf gedankenlos einen Stein in den Trichter des gouffre hinab und sah überrascht, dass von dort unten zwei Krähen aufflogen. Es ist eine bekannte Tatsache, dass Krähen ihr Nest nur über sehr tiefen Schächten bauen, weswegen es ihm verwunderlich schien, dass diese Vögel über der kleinen Delle des Gouffre Larrau nisteten. Neugierig geworden, kletterten die beiden in den Trichter hinab und warfen Steine in den Schacht. Wegen des Echos, ausgelöst von den Steinen und dem Geröll, das sie im Fallen mitnahmen, konnten sie unmöglich abschätzen, wie tief der Schacht wirklich war, eines jedoch war ganz gewiss: Es handelte sich nicht mehr um eine kleine Delle. Anscheinend hatte das große Erdbeben von 1962, bei dem das Dorf Arrete fast völlig zerstört worden war, auch einige Steine aus dem Geröllpfropfen gelöst, der bis dahin den Schacht blockierte.
Als die beiden Hirten zwei Monate später mit der zweiten Transhumanz wieder ins Tal hinabkamen, berichteten sie Beñat Le Cagot von ihrer Entdeckung, denn sie wussten, dass der polternde Barde des baskischen Separatismus ein passionierter Höhlensportler war. Er verpflichtete sie zum Schweigen und informierte Nikolai Hel, bei dem er in Sicherheit leben konnte, wann immer seine jüngsten Aktionen in Spanien einen Aufenthalt dort besonders riskant erscheinen ließen.
Weder Hel noch Le Cagot wagten es, sich allzu großer Freude über die Entdeckung hinzugeben. Ihnen war klar, dass keine großen Chancen bestanden, auf dem Grund des Schachts – falls sie überhaupt so weit kamen – ein größeres Höhlensystem zu entdecken. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte das Erdbeben nur den obersten Teil des Schachts freigelegt. Oder sie würden, wie schon so oft, feststellen müssen, dass jahrhundertelanger Einbruch durch den gouffre den Geröllkegel darunter so hoch aufgefüllt hatte, dass er das Dach der Höhle erreichte, seine Spitze bis in den Schacht eindrang und ihn endgültig verstopfte.
Trotz all dieser zum Schutz vor Enttäuschung vorgebrachten Zweifel beschlossen sie, sofort zu einer ersten kurzen Erforschung aufzubrechen – einfach nur hinabzusteigen und sich ein wenig umzusehen, nichts Besonderes.
Mit dem Herbst kam schlechtes Wetter in die Berge gezogen, und das war ein Vorteil, denn es würde den Spaniern die Lust zu intensiven Grenzpatrouillen nehmen (die Franzosen waren derartigen Anstrengungen ohnehin abhold). Das raue Wetter würde die Arbeit jedoch erschweren, wenn sie ihre Ausrüstung –
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