Shibumi: Thriller (German Edition)
gemacht. Im Lauf der Jahre hatte sich automatisch eine Aufgabenteilung zwischen ihnen ergeben. Le Cagot, trotz seiner fünfzig Jahre ein Bulle an Kraft und Ausdauer, ging immer zuerst hinunter und räumte beim Abstieg gründlich auf, befreite Simse und Dieder von losen Gesteinsbrocken, die durch das Seil heruntergeschleudert werden und die einen Mann, der unten im Schacht stand, erschlagen konnten. Stets nahm er ein Feldtelefon mit und errichtete in sicherem Abstand von der Falllinie des Gesteins und des Wassers ein Basislager. Da Hel geschmeidiger und taktisch geschickter war, übernahm er, wenn der Zugangsschacht gewunden war und man die Sachen nicht ohne einen Begleitmann hinablassen konnte, den Transport. Gewöhnlich genügten zwei bis drei Touren. Diesmal jedoch hatten sie allem Anschein nach ein riesiges Netz von Höhlen und Galerien entdeckt, deren Erforschung eine umfangreiche Ausrüstung erforderte; daher hatte Hel elf aufreibende, zermürbende Wege machen müssen. Und jetzt, da diese Aufgabe erledigt war und sein Körper nicht mehr von der durch die Gefahr ausgelösten nervlichen Belastung aufrecht gehalten wurde, überwältigte ihn die Müdigkeit, und seine verkrampften Muskeln lockerten sich unter Schmerzen.
»Weißt du was, Niko? Ich habe meinen scharfen, glänzenden Verstand einem großen Problem zugewandt.« Le Cagot goss sich ein ansehnliches Quantum Izarra in den Schraubverschluss des Flachmanns. Nach zweitägiger Einsamkeit in der dunklen Höhle gierte seine gesellige Natur nach Unterhaltung, die für ihn aus an ein dankbares Publikum gerichteten Monologen bestand. »Ich habe mir Folgendes überlegt. Ich habe festgestellt, dass alle Höhlenforscher verrückt sind – ausgenommen natürlich die baskischen, bei denen das, was bei anderen Wahnsinn ist, eine Manifestation von Mut und Abenteuerlust darstellt. Stimmst du mir zu?«
Hel knurrte nur etwas Unverständliches, denn er sank bereits in einen tiefen Schlaf, der ihm den harten Fels, auf dem er lag, weich und bequem erscheinen ließ.
»Aber, wirst du jetzt protestieren, ist es gerecht zu behaupten, der Höhlenforscher sei verrückter als der Bergsteiger? Es ist gerecht! Und warum? Weil der Höhlenforscher gefährlichere Probleme zu überwinden hat. Der Bergsteiger hat es lediglich mit Anforderungen an seinen Körper und seine Kraft zu tun. Der Höhlenforscher dagegen muss mit Anforderungen an seine Nerven und mit Urängsten fertigwerden. Im Menschen schlummert ein primitives Tier, das gewisse tief eingewurzelte Ängste hegt, gegen die weder Logik noch Intelligenz etwas ausrichten können. Er fürchtet sich vor der Dunkelheit. Er fürchtet sich davor, unter der Erde zu sein, an einem Ort, den er von Kind auf als Heimat des Bösen zu betrachten gelernt hat. Er fürchtet sich vor dem Alleinsein. Er fürchtet sich davor, gefangen, eingeschlossen zu sein. Er fürchtet sich vor dem Wasser, dem er in uralter Zeit entstieg, um Mensch zu werden. Sein primitivster Albtraum ist es, in die Finsternis zu stürzen oder sich im Labyrinth eines unbekannten Chaos zu verirren. Und der Höhlenforscher stellt sich – verrückt, wie er ist – all diesen albtraumhaften Bedingungen freiwillig. Deswegen ist er verrückter als der Bergsteiger, denn was er ununterbrochen aufs Spiel setzt, ist seine geistige Gesundheit. Darüber habe ich nachgedacht, Niko … Niko? Niko? Was, du schläfst, während ich mit dir rede? Elender Faulpelz! Bei den verräterischen Eiern des Judas schwöre ich, dass es nicht einen unter tausend gibt, der schlafen würde, während ich rede! Du beleidigst den Dichter in mir! Das ist ja, als würde man vor einem Sonnenuntergang die Augen oder vor einer baskischen Melodie die Ohren verschließen! Weißt du das, Niko? Niko? Bist du tot? So antworte doch – ja oder nein? Na schön, zur Strafe werde ich deinen Anteil Izarra auch austrinken.«
Der Schacht des Höhlensystems, das sie erforschen wollten, war im Jahr zuvor zufällig entdeckt, anfangs jedoch geheim gehalten worden, weil ein Teil des konischen gouffre darüber in Spanien lag und die Gefahr bestand, dass die spanischen Behörden den Eingang verschließen würden, wie sie es nach dem tragischen Absturz und Tod von Marcel Loubens im Jahre 1952 mit dem Gouffre Pierre-Saint-Martin getan hatten. Im Laufe des Winters hatte eine Gruppe junger Basken dann die Grenzsteine Stück für Stück verschoben, so dass der gouffre schließlich ganz in Frankreich lag. Sie hatten zwanzig Markierungen jeweils
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