Shibumi: Thriller (German Edition)
entlangscharren. Zentimeter um Zentimeter holten ihn die jungen Männer herauf – unendlich langsam und vorsichtig, damit sie ihm nicht unnötig wehtaten. Das Sonnenlicht drang höchstens ein bis zwei Meter tief in das dunkle Loch, daher lagen nur wenige Sekunden zwischen dem Auftauchen von Le Cagots Gurtgeschirr und dem Moment, da er frei, bewusstlos und mit aschfahlem Gesicht am Flaschenzug hing.
Als er wieder zu sich kam, lag Le Cagot, den Arm in einer improvisierten Schlinge, auf einem Kastenbett in der artzain xola des Schäfers. Während die jungen Basken ein Reisigfeuer entfachten, saß Hel auf der Bettkante und blickte in das wettergegerbte Gesicht seines Kameraden mit den tief eingesunkenen Augen und der sonnengebräunten Haut, die unter dem dichten rostroten grau gesprenkelten Bart immer noch grau war von dem erlittenen Schock.
»Möchtest du einen Schluck Wein?«, fragte Hel.
»Ist der Papst eine Jungfrau?« Le Cagots Stimme klang schwach und rau. »Spritz du ihn für mich, Niko. Zwei Dinge gibt es, die ein Einarmiger nicht fertigbringt. Und eines davon ist, aus einem xahako zu trinken.«
Da das Trinken aus einem Ziegenleder- xahako eine Frage der Koordination von Hand und Mund ist, stellte Nikolai sich ungeschickt an und spritzte ein paar Tropfen daneben.
Le Cagot hustete und würgte beim Schlucken des unbeholfen dargebotenen Weins. »Du bist die mieseste Krankenschwester der Welt, Niko. Das schwöre ich bei den verschluckten Eiern des Jonas!«
Hel lächelte. »Und was ist das zweite, das ein Einarmiger nicht tun kann?«, fragte er ruhig.
»Das werde ich dir nicht sagen, Niko. Es ist zu unanständig, und du bist zu jung.«
In Wirklichkeit war Nikolai sogar älter als Le Cagot, aber er wirkte um fünfzehn Jahre jünger.
»Es ist Nacht, Beñat. Morgen früh bringen wir dich ins Tal. Dann werde ich einen Veterinär kommen lassen, der dir den Arm wieder einrenkt. Ärzte arbeiten nämlich nur am Homo sapiens.«
Da fiel es Le Cagot wieder ein. »Hoffentlich habe ich dich nicht allzu schwer verletzt, als ich nach oben kam, Niko. Aber du hast es herausgefordert. Wie man so schön sagt: Nola neurtcen baituçu; hala neurtuco çare çu.«
»Ich werde die Prügel, die du mir verpasst hast, schon überleben.«
»Gut.« Le Cagot grinste. »Du hast wirklich ein schlichtes Gemüt, mein Freund. Glaubst du tatsächlich, ich hätte dein kindisches Spiel nicht durchschaut? Du wolltest mich in Zorn versetzen, damit ich die Kraft aufbringe, es bis nach oben zu schaffen. Aber es hat nicht funktioniert …«
»Nein, es hat nicht funktioniert. Die baskische Seele ist zu subtil für mich.«
»Sie ist zu subtil für alle außer Sankt Peter – der übrigens selber Baske war, obwohl das nur sehr wenige wissen. Und jetzt erzähle: Wie sieht unsere Höhle aus?«
»Ich war noch nicht unten.«
»Du warst noch nicht unten? Alla Jainkoa! Aber ich bin nicht bis auf den Grund gekommen! Wir haben sie noch nicht richtig in Besitz genommen. Was, wenn nun irgendein Esel von Spanier zufällig den Schacht findet und die Höhle für sich beansprucht?«
»Na schön. Morgen früh werde ich runtergehen.«
»Gut. Und jetzt gib mir noch etwas Wein. Aber halte den Schlauch diesmal still! Nicht wie ein Dreikäsehoch, der versucht, seinen Namen in den Schnee zu pinkeln!«
Am nächsten Morgen stieg Hel hinunter. Der Weg war bis ganz unten hin frei. Er kam durch den Wasserfall an die Stelle, wo der Schacht in die große Höhle mündete. Als er da hing und sich am Seil drehte, während die Jungen oben ihn mit den Klemmen hielten, weil sie die Trommeln auswechseln mussten, wurde ihm klar, dass sie eine spektakuläre Entdeckung gemacht hatten. Die Höhle besaß derart gewaltige Ausmaße, dass das Licht seiner Helmlampe nicht bis zu den Wänden reichte.
Kurz darauf landete er auf dem Gipfel des Geröllkegels, wo er sein Geschirr abschnallte und an einem Felsbrocken befestigte, damit er es später wiederfand. Nachdem er den Steinhaufen, auf dem die Felsbrocken in prekärem Gleichgewicht lagen, vorsichtig hinabgeklettert war, stand er ungefähr zweihundert Meter tiefer auf dem Boden der Höhle. Er entzündete eine Magnesiumfackel und hielt sie ein wenig hinter sich, so dass das Licht ihn nicht blendete. Die Höhle war riesig – größer als eine Kathedrale –, und nach jeder Richtung zweigten unzählige Gänge ab. Aber der unterirdische Fluss strömte auf Frankreich zu, und daher würde das, wenn sie zurückkehrten, die Hauptrichtung ihrer
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