Shibumi: Thriller (German Edition)
empor und brodelte und kochte wie ein Dampfbad von vierzig Grad Celsius. Alles, was sie in diesem Dunst erkennen konnten, war der Beginn des Falles dicht unter ihnen und rechts und links von ihrem Sims ein paar Meter glitschigen Felsens. Hel ging nach rechts voraus, wo der Sims sich bald – nur noch wenige Zentimeter breit – um die Kante der Höhlenöffnung herumzog. Es war ein abgerundeter Sims, über den sich anscheinend früher einmal der Wasserfall ergossen hatte. Wegen des kakophonischen Lärms, den das Wasser machte, konnten sie sich lediglich per Zeichensprache verständigen, als Hel seinem Freund den »guten« Belegplatz zeigte, den er gefunden hatte: einen Felsvorsprung, in den Le Cagot sich nur mit Mühe hineinzwängen konnte, um das Sicherungsseil um Hels Taille von dort aus schießen zu lassen, damit dieser sich langsam am Rand des Katarakts hinabarbeiten konnte. Die natürliche Abstiegslinie würde ihn durch die Gischt, durch den Wasservorhang und – hoffentlich – hinter diesen führen. Le Cagot, der grimmig über diesen »guten« Platz schimpfte, während er sich in die Spalte zwängte und einen Sicherungshaken in den Kalkstein über sich trieb, maulte verdrossen, ein Kletterhaken in Kalkstein sei nichts weiter als eine psychologische Dekoration.
Kurz darauf begann Hel den Abstieg; jedes Mal, wenn er zugleich einen Fußhalt und einen Riss im Felsen fand, in den er einen Haken schlagen und dann sein Seil durch die Öse ziehen konnte, hielt er inne. Zum Glück war der Fels noch ziemlich zerklüftet und bot ausreichend Finger- und Zehenhalt; der Richtungswechsel des Wasserfalls war erst vor relativ kurzer Zeit erfolgt, so dass das Wasser den Rand noch nicht hatte abschleifen können. Als er zwanzig Meter tief gekommen war und das Seil durch acht Karabinerhaken geführt hatte, wurde es gefährlich, es nachzuziehen: Der Widerstand des vor Nässe schweren Seils hob seinen Körper fast aus dem Fußhalt, und diese Schwächung der Position erfolgte natürlich gerade dann, wenn Le Cagot von oben Seil nachließ und daher am wenigsten in der Lage war, ihn zu halten, sollte er abrutschen.
Zentimeterweise schob er sich durch die Gischt, bis die ölig-schwarze, silbrig schimmernde Wand des Wasserfalls nur noch dreißig Zentimeter von seiner Helmlampe entfernt war; dann hielt er inne und bereitete sich auf den kritischsten Moment des Abstiegs vor.
Zuerst musste er eine Anzahl Haken einschlagen, damit er unabhängig von Le Cagot arbeiten konnte, der das Seil vielleicht gerade dann festhielt, wenn Hel unter dem Wasserfall angekommen war und, geblendet durch die herabstürzenden Wassermassen, nach Haltepunkten tastete, die er nicht sehen konnte, und wenn er zusätzlich das gesamte Gewicht des stürzenden Wassers mit Rücken und Schultern auszuhalten hatte. Er musste sich so viel lose Seillänge verschaffen, dass es durch den Wasservorhang reichte, denn vorher würde er nicht Luft holen können. Andererseits, je mehr Seil er sich gestattete, desto tiefer würde er fallen, sollte ihn die Kraft des Wassers umreißen. Er beschloss, drei Meter zu nehmen. Gern hätte er sich mehr gegönnt, damit das Seil nicht zu Ende ging, wenn er sich unter der Wassersäule befand, aber sein Verstand sagte ihm, dass drei Meter die oberste Grenze darstellten, denn damit würde er, sollte er fallen und das Bewusstsein lange genug verlieren, um ertrinken zu können, wenn er unter dem Wasser hing, aus der Falllinie des Katarakts herauspendeln.
Er schob sich an den metallisch glänzenden Wasservorhang heran, bis dieser nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war, und hatte sogleich das schwindelnde Gefühl, die Wassermassen ständen still, während er selbst durch das Tosen und die Gischt emporsteige. Er streckte die Hand durch den Vorhang, der sich zu einem schweren, pulsierenden Armband um sein Handgelenk schloss, und tastete nach dem geeignetsten Halt, den er finden konnte. Seine Finger schoben sich in einen scharfen kleinen Spalt, der hinter dem Wasser verborgen war. Er lag allerdings tiefer, als ihm lieb war, denn er wusste, das Gewicht des Wassers auf seinem Rücken würde ihn hinabdrücken, und ein höherer Handhalt wäre weit besser gewesen, weil der Druck seine Finger dann noch fester hineingepresst hätte. Aber es war der einzige Spalt, den er finden konnte, und außerdem begann seine Schulter vom ständigen Aufprall des Wassers auf seinen ausgestreckten Arm zu ermüden. Mehrmals holte er tief Luft und atmete
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