Shibumi: Thriller (German Edition)
gab es keine Felsblöcke mehr, sondern nur rohe, junge Platten, von denen einige so groß waren wie ein Dorf- fronfón , andere senkrecht emporwuchsen, einige flach lagen oder unmögliche Winkel bildeten und wieder andere zu drei Vierteln ihrer Länge über Abgründe hinausragten, gehalten nur vom Gegengewicht einer zweiten Platte. Und unablässig verlockte sie das volle Brausen des Wasserfalls hinter diesem Einbruch, nach einem Durchgang zu suchen.
»Ruhen wir uns lieber ein bisschen aus!«, schrie Le Cagot endlich über den Lärm hinweg, setzte sich auf das Bruchstück einer Felsplatte, warf seinen Rucksack ab und kramte darin nach Zwieback, Käse und xoritzo. »Hast du keinen Hunger?«
Hel schüttelte den Kopf. Er kritzelte in seinem Notizbuch, wagte kühne Einschätzungen verschiedener Richtungen und, da das Klinometer seines Brunton-Kompasses in dem Chaos der Platten nutzlos war, sogar noch kühnere des Neigungswinkels.
»Könnte das da hinter der Wand die Ausmündung des Flusses sein?«, erkundigte sich Le Cagot.
»Ich glaube nicht. Wir haben erst etwas über die Hälfte der Entfernung zum Torrente von Holçarté zurückgelegt und sind mindestens noch zweihundert Meter zu hoch.«
»Und wir können nicht mal zum Wasser runter, um die Farbe reinzuschütten. Überaus ärgerlich, diese Wand! Und schlimmer noch: Der Käse ist alle. Wohin willst du?«
Hel hatte seinen Rucksack abgeworfen und begann freihändig an der Wand emporzuklettern. »Ich möchte mir mal ansehen, wie es da oben ausschaut.«
»Versuch’s lieber etwas weiter links.«
»Warum? Siehst du da vielleicht irgendwas?«
»Nein. Aber ich sitze direkt in deiner Falllinie und fühle mich hier zu wohl, um mich zu erheben.«
Sie hatten bisher noch nicht daran gedacht, es mit der Spitze des Plattenbergs zu versuchen, denn selbst wenn es dort oben eine Möglichkeit zum Durchzwängen gab, würden sie unmittelbar über dem Wasserfall herauskommen, und diese tosende Kaskade war vermutlich unüberwindlich. Da Basis und Flanken des Gesteinshaufens jedoch keinen Durchlass boten, blieb ihnen wirklich nur noch die Spitze.
Eine halbe Stunde später hörte Le Cagot über sich ein Geräusch. Er legte den Kopf in den Nacken, damit der Schein seiner Lampe nach oben fiel. Hel kam im Dunkeln herabgeklettert. Als er die Felsplatte erreichte, ließ er sich erschöpft nieder und streckte sich lang aus, den Kopf auf seinen Rucksack, einen Arm über das Gesicht gelegt. Er war völlig ausgepumpt, keuchte vor Anstrengung, und das Glas seiner Helmlampe war bei einem Sturz gesprungen.
»Willst du wirklich nichts essen?«, erkundigte sich Le Cagot.
Hel, der die Augen geschlossen hatte, in keuchenden Stößen atmete und dem trotz der feuchten Kälte in der Höhle der Schweiß über Gesicht und Brust rann, reagierte auf diesen makabren Humor seines Begleiters, indem er die baskische Version des weltweiten Zeichens für Feindschaft zeigte: Er steckte den Daumen in seine Faust und schob sie Le Cagot unter die Nase. Dann ließ er die Hand sinken und blieb heftig keuchend liegen. Das Schlucken tat ihm weh; seine Kehle war so ausgedörrt, dass sie schmerzte. Le Cagot reichte ihm seinen xahako, und Hel trank gierig, hielt anfangs die Öffnung an die Zähne, weil er im Dunkeln nichts sehen konnte, entfernte sie dann immer weiter vom Mund und dirigierte den dünnen Weinstrahl weit nach hinten in seine Kehle. Er presste den Sack behutsam, aber gleichmäßig, schluckte immer, wenn sein Mund sich gefüllt hatte, und trank so lange, dass Le Cagot um seinen Wein bangte.
»Na?«, erkundigte er sich murrend. »Hast du einen Durchgang gefunden?«
Hel nickte grinsend.
»Wo bist du herausgekommen?«
»Direkt über dem Wasserfall.«
»Scheiße!«
»Nein, ich glaube, es gibt einen Weg rechts herum, durch das Sprühwasser nach unten.«
»Hast du ihn schon ausprobiert?«
Achselzuckend deutete Hel auf sein zersprungenes Lampenglas. »Ja. Aber ich schaffe es nicht allein. Du musst mich von oben sichern. Es gibt da eine gute Belegmöglichkeit.«
»Du hättest es nicht allein versuchen sollen. Eines Tages bringst du dich noch dabei um, Niko. Und dann tut es dir leid.«
Als er sich durch das verwirrende Labyrinth der Spalten gezwängt hatte und neben Hel auf einem schmalen Sims direkt über dem brausenden Wasserfall stand, war Le Cagot von Bewunderung überwältigt. Es ging hier sehr tief hinunter, und das Sprühwasser stieg wie eine Dunstwand durch die windstille Luft an der Wassersäule
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