Shibumi: Thriller (German Edition)
erklärte Hel.
»Ach so! Soziologie.«
Er hätte es sich denken können. Soziologie, diese deskriptive Pseudowissenschaft, die ihre Ungenauigkeit mit statistischer Vernebelung tarnt, während sie sich in der schmalen Informationslücke zwischen Psychologie und Anthropologie mästet. Dieses Nichtstudium, das so viele Amerikaner wählen, um die vierjährigen intellektuellen Ferien zu rechtfertigen, mit denen man in den USA seine Jugend verlängert.
»Was haben Sie denn studiert?«, erkundigte sich Hannah gedankenlos bei ihrer Gastgeberin.
Hana lächelte vor sich hin. »Ach … ein bisschen Psychologie, Anatomie, Ästhetik … So in der Richtung.«
Hannah widmete sich ihren Zucchini und fragte beiläufig: »Sie beide sind nicht verheiratet, wie? Ich meine … Sie haben da gestern Abend diesen Scherz gemacht, dass Sie Mr. Hels Konkubine seien.«
Hanas Augen weiteten sich vor ungläubiger Verwunderung. Sie war diese taktlose Neugier, die im angelsächsischen Kulturkreis mit bewundernswerter Offenheit verwechselt wird, nicht gewöhnt. Hel bedeutete Hana mit schadenfroh-unschuldigem Blick, sie solle selber darauf antworten.
»Nun ja …«, begann Hana. »Es ist richtig, Mr. Hel und ich sind nicht verheiratet. Und es stimmt wirklich, dass ich seine Konkubine bin. Möchten Sie vielleicht ein Dessert? Wir haben gerade die erste Ernte der wunderbaren Kirschen aus Itxassou erhalten, auf die die Basken mit vollem Recht so stolz sind.«
Hel wusste, dass Hana nicht so leicht davonkommen würde, und beobachtete sie grinsend, als Hannah Stern fortfuhr: »Ich glaube, was Sie meinen, ist nicht Konkubine. Im Englischen ist eine Konkubine eine Frau, die für … na ja, für sexuelle Dienste engagiert wird. Ich glaube vielmehr, Sie meinen Mätresse. Aber auch dieser Begriff ist heute überholt. Jetzt sagt man ganz einfach, zwei Leute leben zusammen.«
Hana sah Hel hilfesuchend an. Er lachte und antwortete an ihrer Stelle: »Hanas Englisch ist in Wirklichkeit ausgezeichnet. Das mit dem Zucchino war nur ein Scherz. Sie kennt den Unterschied zwischen einer Mätresse, einer Konkubine und einer Ehefrau sehr genau. Eine Mätresse ist ihrer Entlohnung nicht sicher, eine Ehefrau bekommt keine; und beide sind sie Amateure. Aber jetzt versuchen Sie mal die Kirschen.«
Hel saß auf einer Steinbank mitten zwischen den Zuchtbeeten, die Augen geschlossen, das Gesicht zum Himmel gewandt. Wenn der Bergwind auch kühl war, so drang doch das matte Sonnenlicht durch seinen yukata und machte ihn warm und schläfrig. Er verharrte an der wohligen Schwelle zum Einschlummern, bis er die sich nähernde Aura einer Person wahrnahm, die bedrückt und sehr nervös sein musste.
»Setzen Sie sich, Miss Stern«, forderte er sie auf, ohne die Augen zu öffnen. »Ich muss Ihnen ein Kompliment über Ihr Verhalten bei Tisch machen. Sie haben kein einziges Mal von Ihren Problemen gesprochen und anscheinend gespürt, dass wir in diesem Haus die Welt nicht mit an den Esstisch nehmen. Ehrlich gesagt, ich hatte Ihnen so viel Taktgefühl nicht zugetraut. Die meisten Menschen Ihres Alters und Ihrer Herkunft sind so stark auf sich selbst bezogen, so intensiv mit dem beschäftigt, was sie gerade bewegt, dass ihnen nicht klar wird, wie entscheidend Stil und Form sind und dass Substanz nur ein vorübergehender Mythos ist.« Er öffnete die Augen und lächelte über seinen Aphorismus, den er mit extrabreitem amerikanischen Akzent vortrug: »Es kommt nicht darauf an, was man tut, sondern wie man es tut.«
Hannah hockte sich vor ihm auf die Marmorbalustrade, die Oberschenkel von ihrem Gewicht plattgedrückt. Sie war barfuß und hatte seinen Rat, weniger freizügige Shorts anzuziehen, nicht befolgt. »Sie sagten, wir müssten uns noch einmal unterhalten?«
»Ja. Aber zunächst möchte ich mich für meinen unhöflichen Ton entschuldigen, sowohl bei unserem Gespräch heute Vormittag als auch bei Tisch. Ich war ärgerlich und erzürnt. Ich lebe jetzt seit beinahe zwei Jahren im Ruhestand, Miss Stern. Ich übe den Beruf der Terroristeneliminierung nicht mehr aus; ich widme mich nur noch meinem Garten, der Höhlenforschung, dem Belauschen des Grases, wenn es wächst, und der Suche nach einem tiefen, inneren Frieden, den ich vor vielen Jahren verloren habe – verloren, weil gewisse Umstände mich mit Hass und Wut erfüllten. Und jetzt kommen Sie mit Ihrer Bitte um Hilfe daher, die ich um Ihres Onkels willen nicht zurückweisen kann. Und mir droht die Gefahr, wieder in diesen Beruf
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